23.12.2020 | Mittelalter

Suche nach dem Seelenheil: Liturgische Regelbücher online erkunden

Die mittelalterlichen „Libri ordinarii“ waren Regiebücher für Kirchen und Klöster, die religiöse Zusammentreffen regelten und viel über die Lebenswelten und die Ängste der Menschen erzählen. Einblicke in das Seelenleben von damals ermöglichen nun die ÖAW und die Universität Graz mit der digitalen Edition der „Libri ordinarii“ der Metropole Salzburg.

Die Libri ordinarii“ regelten das Kirchenleben im Mittelalter,  etwa zu Hochfesten wie Weihnachten.
Die Libri ordinarii“ regelten das Kirchenleben im Mittelalter, etwa zu Hochfesten wie Weihnachten.

Das Leben im Mittelalter war stark von der Religion geprägt, die tief in den Alltag wirkte. Die Menschen sehnten sich nach einem besseren Leben nach dem Tod, das sie durch die Teilhabe am opus dei, dem Dienst an Gott, zu erreichen suchten. Wie das konkret ausgesehen hat, ist aus der historischen Distanz mitunter schwer zu erforschen, gerade, wenn es sich um Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse oder Gottesdienste in ländlichen Gebieten handelt. Hat der Priester bei der Messe gesungen? Wenn ja, welche Lieder? Wurde die Gemeinde einbezogen? 

Einblicke in das Seelenleben der Menschen im Mittelalter

Aufschlüsse darüber geben die sogenannten „Libri ordinarii“, das sind liturgische Regelbücher, die neben Texten von Gesängen, Lesungen und Gebeten, auch Rubriken enthielten, in denen Anweisungen zur Ausführung bestimmter liturgischer Handlungen gegeben wurden. Sie sind eine Art Regiebuch für Kirchen, Klöster und Diözesen. "Wir wissen zwar nicht, wo das Brautpaar nach der Trauung gefeiert hat, aber wir bekommen durch die Regelbücher einen guten Einblick in das Seelenleben der Menschen von 1150 bis 1500", sagt Robert Klugseder vom Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

In Zusammenarbeit mit der Universität Graz ist eine digitale Edition der „Libri ordinarii“ der Metropole Salzburg erschienen, die unter cantusnetwork.at abrufbar ist. Die Website ist auch für Laien leicht zu handhaben, man staunt über die prächtigen Buchseiten, die reich verziert waren. Allerdings sind die Handschriften auch für Menschen mit Lateinkenntnissen schwer zu verstehen. "Die Bücher sind in einer Art Stenografie mit zahlreichen Abkürzungen verfasst, man braucht Erfahrung, diese zu entschlüsseln", erklärt Klugseder.

Zur 798 gegründeten Salzburger Metropole gehörten im Mittelalter auch die Diözesen Passau, Regensburg, Freising und Brixen. Sie umfasste zeitweise das gesamte altbairische Gebiet, also den Großteil des heutigen Österreichs, Bayern (außer Franken und Schwaben) und Teile Südtirols und war somit über viele Jahrhunderte hinweg maßgeblich an der kulturgeschichtlichen Entwicklung dieses Raums beteiligt. "Handschriften haben kein Impressum", sagt Klugseder: "Wir wissen in der Regel nicht, wer sie abgeschrieben hat, und wo sie verwendet wurden". Die Suche nach den „Libri ordinarii“ aus dieser Region war deshalb auch eine Detektivarbeit. "Es gibt verschiedene Abschriften, die regional variieren. Daraus eine Urfassung zu erstellen, war ein langwieriger Prozess." Jedes Kloster hatte Abweichungen, die Liturgie zu feiern, das können regionale Heilige sein, die nur in bestimmten Gemeinden verehrt wurden oder besondere Lieder.

Angst vor dem Fegefeuer

Oft führen Beschreibungen, wie eine Kirche, eine Kapelle oder ein Altar aussieht, dazu, dass man die Handschriften lokal verankern kann. Das erfordert jedoch viel Wissen aus anderen Bereichen. Gerade für die Architekturgeschichte lassen sich neue Forschungsergebnisse ziehen, etwa, wenn erwähnt wird, dass man bei einer Prozession in eine Nebenkapelle geht. "Wir können dadurch nicht selten auf 20 bis 30 Jahre genau datieren, in welchem Zeitraum Neu- oder Zubauten an Kirchen entstanden sind", so Klugseder. Aber auch für die Musikwissenschaft sind diese Bücher eine wertvolle Quelle, enthalten sie doch das vollständige Gesangsrepertoire des Mittelalters.

Ein spannendes Kapitel sind die sogenannten Seelgerätstiftungen. "Die Menschen hatten damals eine furchtbare Angst vor dem Fegefeuer", erzählt Klugseder: "Deshalb spendete man, um Priester für das Seelenheil der Verstorbenen beten zu lassen." In Regelbüchern wurden die Aufgaben der Priester genau aufgelistet. Manche Geistliche waren ausschließlich  damit beschäftigt, für das Seelenheil bestimmter Familien zu beten. Als Gegenleistung wurden neben Geld- und Zehentspenden sogar Felder und Bauernhöfe der Kirche überlassen. "Bei reichen Stiftungen lässt sich das Totengedächtnis für die Verstorbenen einer Familie oft über mehrere Jahrhunderte hinweg nachweisen." Die beachtenswerte Editionsleistung des Projekts von 30 Regeltexten war nur durch den Einsatz von Methoden der digitalen Geisteswissenschaften möglich. Diese Tools ermöglichten auch die überwiegend automatisiert erzeugte Druckedition eines Teils der „Libri ordinarii“.

 

AUF EINEN BLICK

Die Kirchenprovinz Salzburg war über viele Jahrhunderte hinweg maßgeblich an der kulturgeschichtlichen Entwicklung Österreichs und Bayerns beteiligt. Das Projekt „Cantus Network“ will die zahlreich erhaltenen liturgisch-musikalischen Quellen, die ein wichtiger Bestandteil dieses kulturgeschichtlichen Erbes sind, in digitaler Form erschließen und wissenschaftlich auswerten.

Das Forschungsprojekt wird in Kooperation mit der Universität Graz durchgeführt und ist Teil der Digital Humanities-Initiative „Langzeitprojekte zum kulturellen Erbe“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Es wird finanziert durch die Österreichische Nationalstiftung für Forschung, Technologie und Entwicklung.