19.10.2017

Sternstunde der Wissenschaften

Mit einem internationalen Symposium feierte die ÖAW das 60. Jubiläum des „Internationalen Geophysikalischen Jahres“ 1957. Der Wissenschaftshistoriker Reinhard A. Krause verrät, warum dieses als epochales Ereignis in die Geschichte eingehen konnte.

© Shutterstock.com/Durch sdecoret
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Eine in Ost und West gespaltene Welt, ein scheinbar unüberwindlicher Eiserner Vorhang und Krisen und Konflikte, die in allen Erdteilen aufloderten – ausgerechnet vor diesem Hintergrund gelang Wissenschaftler/innen in den 1950er Jahren schier Unmögliches: Mit der Organisation und Durchführung des Internationalen Geophysikalischen Jahres im Jahr 1957/1958 schafften es Forscher/innen aus über 60 Nationen, mit einer neu etablierten Form der wissenschaftlichen Zusammenarbeit politische Grenzen zu überwinden und zum Erkenntnisgewinn der gesamten Menschheit beizutragen.

Zum 60. Jubiläum dieser Sternstunde der völkerverbindenden Forschung fand am 18. Oktober 2017 ein Symposium an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) statt. Reinhard Krause, Wissenschaftshistoriker am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und Vortragsgast an der ÖAW, schildert, worin die wahre Bedeutung dieser einzigartigen internationalen Zusammenarbeit lag und was wir bis heute davon lernen können.

Herr Krause, was war das Internationale Geophysikalische Jahr 1957?

Reinhard A. Krause: Das Internationale Geophysikalische Jahr war zunächst die Fortsetzung der internationalen Polarjahre 1882/83 und 1932/33, die zum Ziel hatten, Forschungen in den unzugänglichen Polarregionen auf der Grundlage internationaler Zusammenarbeit zu ermöglichen. Im Rahmen der mehrjährigen Planungsphase für ein drittes Polarjahr wurde rasch klar, dass die Beantwortung vieler Fragestellungen die Einrichtung geophysikalischer Messstationen auf dem gesamten Globus erforderlich machte. Das hieß, dass sämtliche Nationen der Erde zur Teilnahme an dem Programm aufgefordert werden mussten. Die Benennung als Internationales Geophysikalisches Jahr war eine logische Folge genau dieser Entwicklung.

Die Wissenschaftler wollten der Politik zweier verfeindeter Blöcke etwas entgegensetzen: Frei nach dem bekannten Motto‚ Wissenschaftler aller Länder, vereinigt euch!

1957 steuerte der Kalte Krieg mit dem Start der ersten Interkontinentalrakete auf einen Höhepunkt zu. Wie gelang es ausgerechnet vor diesem Hintergrund, die 67 teilnehmenden Nationen zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit zu bewegen? 

Krause: Tatsächlich ist das Internationale Geophysikalische Jahr auch eine Antwort auf die politische Situation der Zeit, in der die Gefahr eines Atomkrieges konkret war. Die Wissenschaftler, traditionell gewohnt an internationalen Austausch, wollten der Politik zweier verfeindeter Blöcke etwas entgegensetzen: Frei nach dem bekannten Motto‚ Wissenschaftler aller Länder, vereinigt euch!

Der Gedanke, dass man den Eisernen Vorhang durch gemeinsame wissenschaftliche Interessen überwinden könne, war sowohl im östlichen als auch im westlichen Lager stets gegenwärtig. Wiederholt formulierten ranghohe Offizielle den friedensstiftenden Charakter der gemeinsamen Forschungsarbeit.

Welche Errungenschaften verdanken wir dem Geophysikalischen Jahr?

Krause: Eine herausragende Errungenschaft ist jedenfalls die Einführung künstlicher Erdsatelliten. Diese ermöglichen unter anderem eine permanente Beobachtung der Erde einschließlich meteorologischer Zustände. Sie haben die Navigation und Kommunikation revolutioniert und durchdringen somit buchstäblich alle Bereiche des täglichen Lebens. Nicht zuletzt wird mit dem Internationalen Geophysikalischen Jahr der Vorstoß des Menschen in den Weltraum in Zusammenhang gebracht.

Die stärksten wissenschaftlichen Impulse insgesamt konnten die Forschungen auf dem Gebiet solar-terrestrischer bzw. kosmologisch-terrestrischer Fragestellungen verzeichnen. Sehr bedeutend war nebenbei der beachtliche "Spin off" in andere Forschungsbereiche, von der Raketentechnik bis zur Mikroelektronik. 

Der Antarktis-Vertrag, der in Folge des Geophysikalischen Jahres geschlossen werden konnte, öffnete den südlichsten Kontinent für die gemeinsame Forschung und half, politische Interessen zu bändigen. Worin liegt seine Bedeutung?

Krause: Der Antarktisvertrag – heute: Antarctic Treaty System – ist einer der seltenen Fälle, in denen die Wissenschaft die Politik geführt hat. Es handelt sich um einen epochemachenden Vertrag, dessen Bedeutung und Wirkung gerade darauf beruht, dass es sich bei dem Vertragsgegenstand um ein Gebiet handelt, auf das durchaus völkerrechtlich relevante Territorialansprüche bestanden.

Könnte die Welt von heute mehr Abkommen wie dieses vertragen?

Krause: Das Weltproblem Ende der 1950er Jahre war die schwelende Ost-West-Konfrontation, die Erhaltung des Weltfriedens. Das Problem unserer Zeit ist die Gefährdung des ökologischen Gleichgewichts des blauen Planeten, hervorgerufen durch die Aktivität der Menschheit. Es müssen dringend Maßnahmen zur Erhaltung der Natur im globalen Maßstab ergriffen werden.

Mit einer dem Antarctic-Treaty-System ähnlichen Vertragskonstruktion könnten die letzten großen Urwaldgebiete unserer Erde zu einem unantastbaren Menschheitserbe erklärt werden.

Es ist offensichtlich, dass das Antarctic-Treaty-System auch für diese Problemstellung eine Vorbildfunktion bietet. Denn dieses Vertragssystem hat, nachdem zunächst die militärische Nutzung der Antarktis gebannt war, de facto auch ihre wirtschaftliche Nutzung ausgeschlossen, ohne dass darüber eine globale Einigung nötig gewesen wäre. Dieser Weg könnte durchaus auch auf andere Gebiete der Erde angewendet werden. Aber gerade dort, wo sich für das globale ökologische System wichtige, schützenswerte Areale befinden, verhindern wirtschaftliche Interessen einen wirksamen Schutz. 

Welche konkreten Schritte wären vorstellbar?

Krause: Würde man nationale Wissenschaftsetats, ähnlich wie in der Antarktis, zur Wirkung bringen, könnte mit einer überschaubaren Anzahl von Nationen Erhebliches bewirkt werden. Ein möglicher konkreter Schritt würde auf die letzten großen Urwaldgebiete unserer Erde abzielen: Mit einer dem Antarctic-Treaty-System ähnlichen Vertragskonstruktion könnten diese zu einem unantastbaren Menschheitserbe erklärt werden und damit vor dem Würgegriff der Menschheit geschützt werden. 

 

Reinhard A. Krause ist Wissenschaftshistoriker am Alfred-Wegener-Institut des Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und forscht unter anderem zu den Internationalen Polarjahren 1882/1883 und 1932/1933, den Vorläufern des Internationalen Geophysikalischen Jahres.

Beim Symposium„60 Jahre Internationales Geophysikalisches Jahr“ diskutieren am 18. Oktober 2017 auf Einladung der ÖAW-Kommissionen für Astronomie und für Geowissenschaften internationale Expert/innen geophysikalische Themen wie Polarforschung, die Magnetosphäre der Erde und Neues aus dem Sonnensystem.

60 Jahre Internationales Geophysikalisches Jahr

Kommission für Astronomie der ÖAW

Kommission für Geowissenschaften der ÖAW