04.05.2020

„Österreichs Erinnerungskultur ist einige Sonderwege gegangen“

Am 5. Mai 1945 wurde das KZ Mauthausen befreit, am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. Wie an diese und weitere Gedenktage in den letzten Jahrzehnten erinnert wurde, sagt viel über die jeweilige Zeit und das politische Bewusstsein aus, erklärt ÖAW-Historikerin Heidemarie Uhl im Interview und im Gespräch mit Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonić im Podcast MAKRO MIKRO.

Das Fest der Freude ist eine erst seit 2013 stattfindende Veranstaltung zur Erinnerung an das Kriegsende 1945. Heuer findet das Fest aufgrund der Coronapandemie virtuell im Internet statt. © Christian Michelides, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

Das Erinnern an die österreichische Unabhängigkeitserklärung am 27. April. Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 5. Mai. Das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai. Anhand dieser Tage des Gedenkens an das Jahr 1945 und wie sie eingeführt wurden, lässt sich ablesen, wie hochgradig dynamisch Erinnerungskultur ist und wie viel sie über die zeitgenössische Gesellschaft und ihr politisches Bewusstsein aussagen kann, sagt die Historikerin Heidemarie Uhl. Sie forscht am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit einem Fokus auf Zeitgeschichte und Gedächtniskultur und -politiken.

Österreichs Sonderwege

Österreichs Erinnerungskultur sei einige Sonderwege gegangen, erzählt Uhl: „Österreich war wohl jenes Land in Europa, das als letztes einen Nationalfeiertag eingeführt hat.“ Erst im Jahr 1965 wird der 26. Oktober als Feiertag im Parlament beschlossen. Das habe damit zu tun, dass die Frage der österreichischen Nation lange umstritten war. So zeigen Umfragen noch Anfang der 1960er-Jahre, dass sich viele Österreicher/innen nach wie vor als Deutsche verstanden. Uhl: „Die Einführung des Nationalfeiertags ist ein Ausdruck und ein Katalysator für die Festigung der österreichischen Identität.“

Gleichzeitig verwirft die Zweite Republik andere Gedenktage – und das ebenso aus politischen Gründen. Während der 1. Mai, der Tag der Arbeit, als staatlicher Feiertag aus der Ersten Republik übernommen wird, wird der 12. November 1918, der Tag der Gründung der Ersten Republik, nicht mehr aufgegriffen. Dieser Feiertag war ein zuverlässiger Konfliktgenerator in der Zwischenkriegszeit aber auch nach 1945, wie Uhl erklärt.

Die Einführung des Nationalfeiertags ist ein Ausdruck und ein Katalysator für die Festigung der österreichischen Identität.

„Von den Sozialdemokraten als Beginn der demokratisch-republikanischen Zukunft gefeiert, wurde er vom bürgerlich-konservativen Lager als Trauertag gesehen, da er den Untergang der Habsburger-Monarchie markiert.“ Daher wurde für den Nationalfeiertag ganz bewusst ein neutrales Datum gewählt. Am 26. Oktober 1955 wurde die Neutralität Österreichs im Parlament beschlossen. „Das ist nichts, was die patriotischen Herzen höherschlagen lässt“, sagt Uhl. „Das war eine bewusste Entscheidung, um die Emotionen rund um den Nationalfeiertag nicht wieder in Konfliktkonstellationen rutschen zu lassen.“

Überschreiben des Jahres 1945 durch 1955

Zusätzlich wurde der 27. April zum historischen Bezugspunkt, an dem im Jahr 1945 mit der Unabhängigkeitserklärung der „Anschluss“ an das Deutsche Reich für nichtig erklärt und die demokratische Republik Österreich wiedererrichtet wurde. „Allerdings hatte dies nicht die Strahlkraft, die man sich erwarten könnte“, sagt Uhl. Denn im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern, in denen das Gedenken an das Jahr 1945 eine zentrale Rolle spielte, hat in der Erinnerungskultur Österreichs ein späteres Ereignis alles überstrahlt: die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955. „Das war der Feiertag der Herzen. Das ist wohl nach wie vor der emotional besetzte Gedächtnisort der Zweiten Republik“, erklärt Uhl. Bis heute verbindet sich mit diesem Tag die positiv besetzte Ikone der Zweiten Republik; die berühmte Szene der Präsentation des Staatsvertrags vom Balkon des Belvedere und die berühmten Worte Leopold Figls: „Österreich ist frei“.

Wenn man sagt, Österreich hat ein anderes Verhältnis zu 1945, dann liegt das im Überschreiben des Jahres 1945 durch das Jahr 1955.

„Wenn man sagt, Österreich hat ein anderes Verhältnis zu 1945, dann liegt das im Überschreiben des Jahres 1945 durch das Jahr 1955“, erklärt Heidemarie Uhl. Andere europäische  Länder feierten am 8. Mai den Sieg über das NS-Regime – mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland, die an diesem Tag der Kapitulation mit der eigenen NS-Vergangenheit konfrontiert wurde. Österreich feierte stattdessen 1955 und zwar auch als Sieg: „Gewissermaßen als späten Sieg des kleinen, unschuldigen Österreich gegen die übermächtigen Alliierten“.

Eingliederung in globalisierte Erinnerungskultur

Vor 30 Jahren begann sich dies zu ändern. „In den 1990er-Jahren gibt es eine Zäsur in der Gedächtnisgeschichte der Zweiten Republik“, sagt Uhl. Es entwickelte sich eine neue Dynamik und ein neuer säkularer Gedenkkalender. „Hier zeigt sich auch in Österreich die neue Bedeutung, die der Holocaust in der Erinnerungskultur gewonnen hat. Er wird zunehmend als ‚Zivilisationsbruch‘ in der Geschichte der Moderne wahrgenommen.“ Ein neuer Fokus auf die Opfer des Holocaust ist zu beobachten, damit integriert sich Österreich auch in die zunehmende  Europäisierung und Globalisierung der Erinnerungskultur.

1995 forderte das Europäische Parlament seine Mitgliedsländer auf, einen Gedenktag für die Opfer des NS-Regimes einzurichten. „Dieser Tag sollte sich auch stark gegen zeitgenössischen Rassismus und Antisemitismus positionieren“, erklärt Uhl. Während sich Deutschland für den 27. Jänner entschied (Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau), wählte Österreich den 5. Mai (Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen).

Neues Gedenken: Fest der Freude

Der Anstoß für ein Gedenken am 8. Mai kam hingegen von Innen. Erstmals wurde er im Jahr 2012 als „Fest der Freiheit“ am Wiener Heldenplatz begangen, das war eine gezielte Gegenveranstaltung zum sogenannten Totengedenken der deutschnationalen schlagenden Burschenschafter. Diese legten seit 2002 jährlich einen Kranz für die gefallenen Wehrmachtssoldaten in der Krypta des Heldendenkmals im Äußeren Burgtor nieder. „Sie besetzten somit den 8. Mai in ihrem Sinne als Tag der Trauer“, sagt Uhl. Als 2012 publik wurde, dass in den Totenbüchern des Heldendenkmals auch Kriegsverbrecher und SS-Männer vermerkt sind, unterband das Bundesheer weitere Kranzniederlegungen in der Krypta. Seit 2013 gibt es am 8. Mai ein vom Mauthausen Komitee Österreich und anderen Organisationen veranstaltetes „Fest der Freude“ am Heldenplatz.

Gedenktage müssen auch immer einen Nerv treffen, ein gesellschaftliches Erinnerungsbedürfnis.

„Das Spannende an diesen Gedenktagen ist zum einen, dass sie erst vor Kurzem eingerichtet wurden, und zum anderen, dass sie von einem großen Interesse und zivilgesellschaftlichen Engagement getragen sind“,  fasst Uhl zusammen. „Gedenktage müssen auch immer einen Nerv treffen, ein gesellschaftliches Erinnerungsbedürfnis.“ So zeige sich ganz klar das Bedürfnis, sich selbstkritisch mit dem negativen Potential in der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und daraus Lehren für die Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Die Frage, wie der Holocaust in einer modernen Gesellschaft, in deren Strukturen wir ja nach wie vor leben, geschehen konnte, wird auch noch zukünftige Generationen herausfordern, ist Uhl überzeugt.

Natürlich betreffen die Covid-19-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen auch diese Gedenkfeiern, so wird etwa das „Fest der Freude“ am 8. Mai heuer „virtuell“ stattfinden. „Es gibt verschiedene Formen auf diese Einschränkungen zu reagieren, aber es ist nicht nur ein Reagieren, es entsteht auch etwas Neues“, sagt Uhl. Ein Forschungsprojekt zu diesen neuen, auch interaktiven Formen des Gedenkens sei bereits in Vorbereitung.

 

AUF EINEN BLICK

Mehr über die Dynamiken und Politiken der Erinnerungskultur und über in dieser Hinsicht „umkämpfte Museen“ erzählen die ÖAW-Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonić und ihre Kollegin Heidemarie Uhl im Podcast MAKRO MIKRO.

Podcast: Wie wir Holocaust und Zweiten Weltkrieg erinnern