03.05.2021 | Wissenschaftsgeschichte

ÖAW-Ehrenmitglied Gerald Holton ausgezeichnet

Der US-Wissenschaftshistoriker erhält den spanischen BBVA Foundation Frontiers of Knowledge Award 2021. Holton ist seit 2016 Ehrenmitglied der ÖAW.

© ÖAW

Der US-Wissenschaftshistoriker Gerald Holton (98) erhält den Frontiers of Knowledge Award 2021 in der Kategorie Geisteswissenschaften. Der mit 400.000 Euro dotierte Preis wird von der spanischen BBVA Foundation in Kooperation mit dem Spanish National Research Council vergeben. Holton, der in Wien aufgewachsen ist und von den Nationalsozialisten vertrieben wurde, erhält die Auszeichnung für "bahnbrechende Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen er besondere Sensibilität für kulturelle, philosophische, soziologische und geschlechtsspezifische Zusammenhänge gezeigt hat".

Bahnbrechende Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte

Holton, Professor für Physik und Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University, habe "eine fundierte Analyse des komplexen Phänomens der Wissenschaftsfeindlichkeit und ihrer Rolle im Totalitarismus" entwickelt, heißt in der Begründung der Preisjury weiter. Der Historiker wird auch für "seine innovativen Beiträge zur wissenschaftlichen Bildung, seine entscheidende Rolle bei der Bewahrung von Albert Einsteins dokumentarischem Nachlass und seine Studien über das Schicksal von Kindern, die aus Nazi-Deutschland fliehen mussten", geehrt.

Holton sei eine "herausragende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Erforschung der Frage, wie die Wissenschaft die Kultur einer Gesellschaft prägt". Er habe in seiner Arbeit versucht zu zeigen, "wie die Wissenschaft von ihrem Hintergrund durchdrungen ist, anstatt sie so zu behandeln, als ob sie ganz allein vom Himmel gefallen wäre", wird der Historiker in einer Aussendung der Stiftung zitiert.

Vom Geflüchteten zum Harvard-Professor

Holton wurde am 23. Mai 1922 in Berlin geboren. Zunehmender Antisemitismus und Nationalsozialismus zwangen seine Familie nach Wien zu ziehen, wo er den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte. 1938 musste er 16-jährig mit einem "Kindertransport" erneut fliehen, zunächst nach Großbritannien und zwei Jahre später in die USA, wo er eine schließlich eine außergewöhnliche akademische Karriere machte.

Er studierte Physik und promovierte sich 1947 an der Harvard University. 1952 bekam Holton die Leitung seines eigenen Labors für Hochdruckphysik, entdeckte aber bald seine Leidenschaft für die Wissenschaftsgeschichte. „Wissenschaft“, so hat er einmal geschrieben, „sollte ihre Geschichte wertschätzen und Wissenschaftsgeschichte sollte die Wissenschaft wertschätzen.“

Holton war der erste, der Albert Einsteins Schriften und Korrespondenz nach dessen Tod 1955 archivierte und der wissenschaftlichen Gemeinschaft zugänglich machte. „Ich hielt es für eine moralische Verpflichtung dies zu tun und in einem Archiv zu sammeln, das Forschende nutzen können“, berschrieb er einmal in einem Interview seine Motivation.

Auch Holtons Warnungen vor wissenschaftsfeindlichen Bewegungen und den vielfältigen Gefahren, die damit verbunden sind würdigte das Preis-Komittee. Holton, der den Aufstieg der Nazi-Barbarei in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft mit eigenen Augen miterlebt hat, habe gezeigt, dass "die Verherrlichung der Irrationalität in Kombination mit Populismus und Nationalismus eine Gleichung ist, deren Ergebnis nur allzu leicht zu totalitären Bewegungen und Regimen führt".

Filmisches Porträt der ÖAW

Holton hat zahlreiche Ehrungen erhalten, zum Beispiel das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat ihn 2016 zum Ehrenmitglied gewählt. Über seine Flucht vor den Nazis und seine wissenschaftliche Laufbahn in den USA hat er gemeinsam mit 15 weiteren herausragende Wissenschaftler/innen im Film „The Class of ‘38. Exile & Excellence“ erzählt, der 2018 von der ÖAW produziert und vom Filmemacher Frederick Baker gestaltet wurde.

Mit jungen Menschen, die vor den Nazis flüchten mussten, setzte sich Holton auch selbst publizistisch auseinander, etwa im 2008 gemeinsam mit Gerhard Sonnert veröffentlichten Buch „Was geschah mit den Kindern?“ Er zeigt darin, dass es vielen der Vertriebenen gelang, in ihren neuen Heimatländern außerordentlich erfolgreich zu werden – allerdings zu einem hohen Preis: psychischen Traumata, die bei vielen der ehemaligen Flüchtlinge als Nachwirkung ihrer Verfolgung bis heute vorhanden sind.

 

AUF EINEN BLICK

„The Class of ‘38. Exile & Excellence“ lässt 16 herausragende Wissenschaftler/innen in einem filmischen Dokument zu Wort kommen. Zu den porträtierten Persönlichkeiten, zählen Eric Kandel, Martin Karplus, Ruth Klüger, Walter Kohn und Gerald Holton, Sie alle haben nicht nur die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung aus Österreich nach dem „Anschluss“ 1938 gemeinsam – sondern auch herausragende wissenschaftliche Karrieren.

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