Das Osterfest wandert jedes Jahr, weil der Termin auf dem Mondkalender basiert, dessen Monate nur 29,5 Tage lang sind. "Erst nach 532 Jahren sollte sich im Mittelalter das Fest wieder am selben Datum wiederholen", sagt Christian Gastgeber, Historiker am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Mit modernen Methoden können wir den Termin heute zwar problemlos festlegen, Einigkeit herrscht deshalb aber noch nicht. Orthodoxe Christ/innen feiern Ostern aufgrund des julianischen Kalenders nach wie vor an einem anderen Tag als die Christ/innen im Westen, 2022 ist das eine Woche nach dem katholischen Osterfest.
Brücke zwischen Ost- und Westkirche
"Im Mittelalter war die Situation viel komplizierter. Es gab verschiedenste Methoden zur Berechnung, teilweise wurde Ostern in benachbarten Regionen zu unterschiedlichen Zeiten gefeiert. Dazu kam, dass das Thema politisch brisant war, weil es zu Machtkämpfen um die Festlegung des Datums kam. In der Fastenzeit war zum Beispiel Kriegsführung nicht sinnvoll", sagt Gastgeber. Weil Ostern das wichtigste Fest für Christ/innen ist, diente es auch als Referenzpunkt im Kalender zur Festlegung anderer wichtiger Daten.
Durchgesetzt hat sich im Einflussbereich der Westkirche das ägyptische Berechnungsmodell, auch weil die alexandrinischen Astronomen zur damaligen Zeit führend waren. Wie dieser Übergang genau vonstatten gegangen ist, war aber lange Zeit mysteriös. Bekannt war, dass der Gelehrte Dionysius Exiguus eine für Europa maßgebliche Ostertermintabelle erstellte, die ab 532 n. Chr. eine bislang verloren geglaubte ägyptische Tabelle fortsetzte. Eine griechische Abschrift dieser Tabelle aus einem damaligen griechischen Siedlungsgebiet in Süditalien hat Gastgeber jetzt in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand aufgespürt. "Das ist für einen Historiker ein Sensationsfund, der für die Datumsberechnungen die Brücke zwischen Ost und West schlägt", sagt der ÖAW-Forscher.
Entdeckung in der Wiener U-Bahn
Gastgeber hat das im 12. Jahrhundert handschriftlich in Griechisch verfasste Dokument, das neben der relevanten Tabelle noch viele weitere Informationen zu Berechnungsmethoden enthält, beim Durchstöbern digitaler Datenbanken gefunden. "Aus Neugierde und Berufsinteresse vertiefe ich mich manchmal in der U-Bahn in solche Sammlungen und ihre freigestellten Texte. Aufgrund unzureichender Katalogisierung gibt es da noch viele Schätze zu entdecken", sagt der Byzanzforscher. Als ihm klar wurde, dass hier ein bedeutendes Dokument vorliegt, nach dem Historiker/innen lange gesucht haben, hat Gastgeber sich auf nach Mailand gemacht, um das Original zu sichten.
Bei der Handschrift handelt es sich teils um ein Palimpsest, also ein Pergament, das doppelt beschrieben wurde, um wertvolles Beschreibmaterial zu sparen. In diesem Fall entpuppte sich die jüngere Schrift als interessant. "Die vielen Zahlen in dem Text und der schlechte Erhaltungszustand haben andere Kolleginnen und Kollegen wohl abgeschreckt. Das Lesen war teilweise sehr mühsam, da braucht man für ein paar Wörter schon mal einen halben Tag. Ohne die Unterstützung von Federico Gallo, dem Direktor der Biblioteca Ambrosiana, wäre die Analyse nicht möglich gewesen", sagt Gastgeber.
Die Ergebnisse der Untersuchung hat der Textforscher mittlerweile im Verlag der ÖAW publiziert. Die Wanderung und die Übernahme der ägyptischen Vorlage zur Berechnung des Osterdatums ist für den Westen damit sicher dokumentiert. "Dieser Fall zeigt, dass man historische Schätze nicht in Geheimbibliotheken suchen muss, die verstecken sich oft in öffentlich zugänglichen Archiven vor unserer Haustüre", sagt Gastgeber. Weitere Funde sind noch zu erwarten. "Einiges habe ich noch in petto aus meinen U-Bahn-Leseabenteuern", sagt Gastgeber, der diese Forschung im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Prisms of Time: Comparative Approaches to Historiography, Computus and Cosmology in the Global Medieval World" an der ÖAW betreibt.