Europa, wie wir es heute kennen, erlebte im Zuge des Zerfalls des weströmischen Reiches eine weiträumige Transformation, die auch unter dem Begriff der „Völkerwanderung“ bekannt ist. Die Kenntnisse über dieses Zeitalter vom 4. und 8. Jahrhundert nach Chr., das lange als schwer fassbar galt, gewinnen dank der Kombination historischer bzw. archäologischer Quellen und genetischer Untersuchungen in jüngster Vergangenheit zunehmend an Detailgenauigkeit. Das verdeutlicht auch eine neue Analyse von Gräberfeldern im ungarischen Szólád sowie in der Nähe von Turin. Beide Orte zeugen vom engen Zusammenleben lokal ansässiger mit zugewanderten Personengruppen.
Walter Pohl, Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), war maßgeblich an dieser nun im Fachjournal Nature Communications publizierten Studie beteiligt. „Entscheidend war“, so der Mittelalterforscher, „dass die Ergebnisse der Paläogenetik zusammen mit der Expertise der Historiker/innen ausgewertet wurden.“ Darüber hinaus hat die internationale Arbeitsgruppe nicht nur verstreute Einzelbefunde bewertet: Diesmal standen erstmals vergleichende Analysen ganzer Gräberfelder zur Verfügung.
Langobarden und ihre Zeitgenossen
Konkret geht es um etwas mehr als hundert Gräber aus dem 6. Jahrhundert, als die Langobarden von Pannonien nach Italien zogen. Die Untersuchungen weisen darauf hin, dass sowohl im Gräberfeld in Ungarn als auch bei Turin langobardische Familienverbände mit Gruppen von Ortsansässigen vergleichsweise friedlich zusammenlebten – ohne sich freilich kulturell zu durchmischen. Das zeigen neben genetischen Befunden auch Grabbeigaben: Während in Gräbern der ansässigen christlichen Bevölkerung Grabbeigaben fehlten, waren die langobardischen Gräber reich mit Gegenständen wie Schmuck, Waffen oder Schilden rausgestattet. Erstaunlich für die Studienautor/innen war bei ihren Untersuchungen, wie stark die genetischen Cluster mit den etwa über die Grabbeigaben identifizierten kulturellen Gruppen übereinstimmten.
Dieser Befund verdeutlicht das Potenzial, das Paläogenetik und Bioarchäologie für die Frühmittelalterforschung bergen. Zugleich zeigt sie, wie wichtig bei der Interpretation genetischer Befunde die Mitarbeit von Historiker/innen und Archäolog/inn/en ist. Die Kombination all dieser Methoden erlaubt es, ein noch detailgetreueres Bild der frühmittelalterlichen Grundlagen Europas zu gewinnen. Die aktuelle Studie ist dabei erst der Beginn dieser Zusammenarbeit, betont Pohl. An den Gräberfeldern mangelt es jedenfalls nicht. Weiterführende Analysen werden vor allem eine Basis für das Verständnis der sozialen Organisation jener Gemeinschaften liefern, hofft der Mittelalterforscher.