19.06.2019 | World Refugee Day

Flüchtlings-Schicksalen auf der Spur

Je restriktiver die Flüchtlingspolitik, desto länger und gefährlicher wird der Weg nach Europa – dies ist eine der Lehren, die die Sozialwissenschaftlerin Moa Nyamwathi Lønning aus ihrer Feldforschung mit jungen Afghan/innen gezogen hat. Am 19. Juni, dem Vortrag des World Refugee Day, war sie bei einer ÖAW-Tagung zu Gast.

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Kaum ein anderes Thema hat die politische Debatte in den letzten Jahren so sehr geprägt wie die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Die Geschichten und Hintergründe der Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa standen dabei aber nur selten im Fokus des Interesses.

Bei Moa Nyamwathi Lønning ist das anders, denn die norwegische Sozialwissenschaftlerin erforscht seit 2012 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan, die sich wegen Krieg und Verfolgung auf den Weg nach Europa machten. Für ihre Doktorarbeit befragte sie 27 Flüchtlinge in Form von wissenschaftlichen Interviews – und teilweise bis zu neun Stunden lang – und sammelte Fototagebücher, schriftliche Tagebucheinträge sowie Zeichnungen, Graffitis und Gedichte. Am 19. Juni, dem Vortag des World Refugee Day, präsentierte sie ihre Erfahrungen und Ergebnisse an einer internationalen Tagung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Frau Lønning, wie haben Sie die interviewten Flüchtlinge ausgewählt?

Moa Nyamwathi Lønning: Von 2012 bis 2015 habe ich Interviews mit jungen Afghanen in Norwegen und Griechenland geführt – sowohl mit anerkannten, als auch mit negativ beurteilten Asylwerbern. Dafür habe ich unter anderem Schulen, Aufnahmezentren und Flüchlingsheime kontaktiert. Meine Feldforschung schließlich fand hauptsächlich in der griechischen Hafenstadt Patra statt, wo Menschen sich in oder unter Trucks verstecken, um auf Fähren nach Italien zu kommen.

Welche Parallelen gibt es zwischen den einzelnen Fluchtgeschichten?

Lønning: Sie alle teilen die Erfahrung einer fragmentierten Flucht nach Europa, während derer sie sehr vulnerabel waren – sowohl was materielle Not wie auch Gesundheit und Sicherheit betrifft. Die meisten haben Gewalt erfahren und waren auf verschiedene Art und Weise eingesperrt – sowohl innerhalb wie auch außerhalb Europas. Dennoch haben sie das beste aus ihrer Situation gemacht und versucht, aktiv weiterzukommen.

In Afghanistan tobt seit 40 Jahren Krieg. Die Familiengeschichte von vielen ist von Migration und Vertreibung über Generationen hinweg geprägt.

Wie konnten Sie das nötige Vertrauen zu den Geflüchteten herstellen?

Lønning: Das war tatsächlich nicht immer einfach, insbesondere bei jenen, die noch unterwegs und deshalb in einer sehr unsicheren Lage waren. Für mich war es wichtig, länger am jeweiligen Ort zu bleiben und den Flüchtlingen die Zeit zu geben, mich kennenzulernen. Es hat nicht immer funktioniert, und letztlich war es außerordentlich wichtig, mich auf die bevorzugten Ausdrucksweisen der Menschen einzulassen. Kreative Materialen wie Fototagebücher sind zu wichtigen Gegenständen meiner Feldforschung geworden, um mehr über die Lebensgeschichte und Flucht zu erfahren.

Was war Ihr Forschungsinteresse? 

Lønning: In Afghanistan tobt seit 40 Jahren Krieg. Die Familiengeschichte von vielen ist von Migration und Vertreibung über Generationen hinweg geprägt. Ich wollte die Erfahrungen der Flucht erforschen, also was es heißt, als junger, unbegleiteter flüchtender Mensch allein nach und in Europa zu reisen. Wesentlich für meine Forschung waren auch Bewältigungsstrategien oder die Rolle der Peergroup – also der Bekanntschaften und Freunde, die man unterwegs findet. In meiner Forschung zeigte sich, dass die Mitreisenden von größter Wichtigkeit waren und dass auch das Alter eine große Rolle spielt: Zum einen kann man sich als junger und kleiner Mensch besser verstecken, zum anderen aber auch schlechter gegen Angriffe wehren.

Die meisten von mir Befragten haben ein Jahr auf der Flucht verbracht, ohne jedwede Sicherheit. Im Laufe dieser Zeit haben sie in der Regel Gewalt erfahren.

Was haben Sie noch herausgefunden?

Lønning: Vor allem, dass die Erfahrungen der Flüchtenden komplex und vielschichtig sind. Flucht ist zunächst einmal eine eine physische Bewegung, die Migration an sich. Darüber hinaus findet aber auch eine legale Bewegung durch den Asylprozess statt, der zum Ergebnis führt, dass manche bleiben können und andere nicht. Und schließlich gibt es auch eine soziale Bewegung in neue Gesellschaften und neue Lebensabschnitte, also auch den Übergang ins Erwachsenenalter.

Was waren und sind die größten Probleme der Flüchtlinge?

Lønning: Die meisten von mir Befragten haben ein Jahr auf der Flucht verbracht, ohne jedwede Sicherheit. Im Laufe dieser Zeit haben sie in der Regel Gewalt erfahren. Für die, die bereits in Norwegen angekommen waren, aber kein Asyl erhalten haben, war die Aussicht auf Abschiebung das Belastendste. Viele haben mir erzählt, dass sie erst nach ihrer Ankunft in Norwegen begonnen haben zu verstehen und zu verarbeiten, was sie alles durchgemacht haben.

Was können wir und die europäischen Gesellschaften daraus lernen?

Lønning: Dass zunehmend restriktive Flüchtlingspolitik und Grenzregimes zu immer längeren, gefährlicheren und schwierigeren Fluchtbewegungen führen. Viele Kinder und Jugendliche begeben sich auf die Flucht, und sie sind dabei meist völlig ungeschützt. Wenn sie dann endlich ankommen, sollten wir sie gut betreuen und von Anfang an in die Gesellschaft aufnehmen. Viele der von mir Befragten haben mir von einzelnen Menschen erzählt, die sich um sie gekümmert haben, und wie wichtig und schön diese Erfahrung für sie war. Es sollte mehr solcher Begegnungen geben.

 

Auf einen Blick

Moa Nyamwathi Lønning ist Sozialwissenschaftlerin mit einem PhD der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens in Trondheim.

Das Refugee Outreach & Research Network (ROR-n) ist ein multidisziplinäres Forschungsnetzwerk. Die Konferenz wird organisiert von ROR-n-Wissenschaftler/innen des Instituts für Sozialanthropologie der ÖAW, des Instituts für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW, des Instituts fürs Demographie der ÖAW sowie des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.

Programm der Tagung