19.06.2018

Europas Sicht auf Flüchtlinge

Ob Flüchtlinge als Opfer oder Bedrohung wahrgenommen werden, wirkt sich stark auf gesellschaftliche Debatten aus. Die deutsche Migrationsexpertin Heidrun Friese untersucht, wie diese sprachlichen Bilder entstehen – und welche Konsequenzen sie haben. Am „World Refugee Day“ war sie bei einer Konferenz der ÖAW zu Gast.

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Bilder machen Leute. Wie die Macht der sprachlichen Bilder gesellschaftliche Debatten prägt, wird in der aktuellen Diskussion über Flüchtlinge, die Schutz in Europa suchen, mehr als deutlich. Längst ist die „Willkommenskultur“, in der geflüchtete Menschen vor allem als hilfsbedürftige Opfer betrachtet wurden, einem populistischen Diskurs gewichen, in dem sie zu einer Bedrohung oder gar zu Feinden erklärt werden. Was zwischen diesen beiden Polen auf der Strecke bleibt, ist die Tatsache, „dass die Menschen, die zu uns kommen, einfach ganz normale Menschen sind“, sagt die deutsche Migrationsexpertin Heidrun Friese. 

Friese hat sich mit Imaginationen des „Fremden“ befasst, also mit der Frage wer wie über Geflüchtete spricht und welche Auswirkungen das auf das gesellschaftspolitische Klima hat. Mit ihren Feldforschungen auf Lampedusa und in Tunesien hat sie zudem hinter diese Imaginationen geblickt, um herauszufinden, wer die Menschen sind, die die gefährliche Flucht nach Europa wagen.

Zum „World Refugee Day“ am 20. Juni 2018 war Friese an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zu Gast. Dort sprach sie bei der Konferenz „Die lange Dauer der Flucht“, die von mehreren sozialwissenschaftlichen Instituten der Akademie organisiert wurde und aktuelle Erkenntnisse zu Flucht, Migration und Integration in den Blick nahm.

Sie forschen zu Flucht und Migration. Dabei stehen soziale Imaginationen im Zentrum. Was ist damit gemeint?

Heidrun Friese: Es geht darum, wie wir die Anderen, also diejenigen, die vor unseren Grenzen stehen, sehen und wie die soziale Imagination sie überhaupt erst zu anderen macht. Diese soziale Imagination ist nicht einfach ein Bild, das wir im Kopf haben, sondern sie schafft und rahmt die Wirklichkeit, in der wir leben und bestimmt, was sagbar ist und was nicht. Wir leben in einer medialisierten Gesellschaft, die durch die Ökonomie der Aufmerksamkeit bestimmt ist. Besonders in diesen digitalen Zeiten haben wir einen Overkill an Bildern und deren Konsum. Das hat wiederum Auswirkungen auf unsere soziale Imagination.

Wie wirkt sich dieses „Framing“ aus?

Friese: In den letzten Jahren habe ich mich mit Gastfreundschaft und der Ambivalenz beschäftigt, die den Fremden, den Gast zwischen Freund und Feind verortet. In diesem Kontext habe ich Feldforschung auf Lampedusa und in Tunesien betrieben. Im Grunde gibt es drei Figuren, die unsere Sicht auf „den Fremden“ bestimmen und die auf eine historisch reichhaltige Bilderwelt zurückgreifen.

Wie ist unsere Sicht auf „den Fremden“ beschaffen?

Friese: Einmal gibt es die Figur des Feindes. Diese wird gerne von Populisten und Rassisten verwendet, um Stimmung gegen Migranten zu machen. Hier wird dann „der“ Muslim skizziert, der „unsere Weißen Frauen vergewaltigt“. Er wird als Parasit und Schmarotzer dargestellt, der uns und unsere Kultur überrollt und von dem eine Gefahr ausgeht. Dann gibt es die zweite Figur, nämlich jene des Opfers. Dieses Bild ist vor allem im humanitären und posthumanitären Diskurs zu finden. Dieser Diskurs appelliert, mithilfe von drastischen Bildern von ertrinkenden Bootsflüchtlingen an die Emotionen, das Mitgefühl und möchte die Authentizität des Leidens darstellen. Diese wird dabei gleichzeitig zum Branding für NGOs, die sich dafür einsetzen, diesem Leiden ein Ende zu setzen. Hier geht es um die Hyper-Sichtmachung der Opfer. Das heißt aber gleichzeitig, dass das Opfer immer ein Opfer bleiben muss. Dann gibt es die dritte Figur, die des Helden. Dieses Bild wird häufig von Aktivisten verwendet. Migranten kommen von Außen und mischen unsere Gesellschaft zum Besseren auf.

Man könnte also sagen: Bilder machen Leute.

Friese: Das Interessante und womöglich wenig Überraschende ist, dass die Menschen, die zu uns kommen, einfach ganz normale Menschen sind. Sie sind Ärzte, Bauern, Familienväter, oder Hausfrauen, gebildet oder ungebildet, und natürlich gibt es auch Kriminelle, wie bei uns auch. Aber sie werden mit diesen drei Figuren zu anderen gemacht, „othering“ wird diese Praxis in der Fachsprache genannt. Das sind postkoloniale Imaginationen, mit denen wir immer noch arbeiten und um die sich unser gesamtes diskursives Netz bildet.
 

Diese Menschen leben ja nicht im Mittelalter. Sie möchten aus der Enge, weg von der Unterdrückung und Willkür, weg von Diktaturen. Ihr Wunsch ist es, so zu leben, wie wir Europäer es tun.


Sie haben auch erforscht, warum sich Menschen aus Nordafrika auf den Weg nach Europa machen?

Friese: Genau. Hier muss man sagen: Diese jungen Leute unterscheiden sich nicht von unseren jungen Menschen, ihren Träumen und Wünschen. Da waren Ungebildete dabei, aber auch junge Menschen mit Schulabschluss, die in ihrer Heimat keine Arbeit bekommen. Aber es gab drei Werte, die alle angetrieben haben: Freiheit, Würde und Meinungsvielfalt. Das sind Werte unserer Europäischen Union, weshalb ich die jungen Menschen aus Nordafrika provokant immer als junge Europäer bezeichne. Die sehen sich Videos auf YouTube an, Hören dieselbe Musik, wie unsere Jugendlichen auch und sind kulturell ganz nah an Europa dran – im Gegensatz zu dem gängigen Bild, das immer gezeigt wird. Diese Menschen leben ja nicht im Mittelalter. Sie möchten aus der Enge, weg von der Unterdrückung und Willkür, weg von Diktaturen. Ihr Wunsch ist es, so zu leben, wie wir Europäer es tun. Es geht ja nicht darum, unsere Lebensweisen zu verändern, wie Populisten und Rassisten immer wieder behaupten.

Wie gastfreundlich ist Europa gegenüber Geflüchteten heute?

Friese: Ich war in den 80ern und Ende der 90er auf Lampedusa, als die ersten Bootsflüchtlinge gekommen sind. Und da habe ich zum Konzept der Gastfreundschaft geforscht. Lampedusa lebte ganz lange hauptsächlich von der Fischerei. Und Fischer sind daran gewöhnt, dass man jedem hilft, der auf See in Not gerät. Wenn man ungefragt jeden aufnimmt, egal wo er herkommt oder wo er hinmöchte, dann ist das tatsächlich Gastfreundschaft.
 

Wir haben es mit dem „Paradox“ der Demokratie zu tun, die ja sowohl einschließt, nämlich die Angehörigen der Polis, zugleich aber auch ausschließt – nämlich diejenigen, die der Polis nicht angehören und die dann gerne zu Feinden gemacht werden.


Derzeit ist der politische Liberalismus, der allen Menschen die gleichen Werte und Rechte zuspricht, wieder auf dem Rückzug. Es geht einerseits um den Kampf um unser jüdisch-christliches Erbe, den Humanismus, die Aufklärung und die Menschenrechte. Das soll Europa ja ausmachen. Gleichzeitig haben wir es mit dem „Paradox“ der Demokratie zu tun, die ja sowohl einschließt, nämlich die Angehörigen der Polis, zugleich aber auch ausschließt – nämlich diejenigen, die der Polis nicht angehören und die dann gerne zu Feinden gemacht werden. In der heutigen Zeit geht es also vor allem um eine Frage, die wir beantworten müssen: Wie kann es in einem liberalen Europa möglich sein, manchen Menschen mehr und anderen weniger Würde und Rechte zuzugestehen. An diesem Grundwiderspruch sollten wir arbeiten. Und das besser früher als später. 

 

Heidrun Friese ist Professorin für interkulturelle Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz in Deutschland. Zuvor war sie u.a. an der Universität Amsterdam und der Goethe Universität Frankfurt am Main tätig. Sie ist Autorin mehrerer Bücher zum Thema Flucht und Migration, zuletzt etwa „Flüchtlinge: Opfer - Bedrohung - Helden. Zur politischen Imagination des Fremden“.

Friese war zu Gast bei der internationalen Konferenz „Die lange Dauer der Flucht“, die am 20. Juni 2018 am Institut für Sozialanthropologie der ÖAW stattfand und vom Fluchtforschungsnetzwerk ROR-n - einem Verbund von Wissenschaftler/innen mehrerer Institute der ÖAW und der Universität Wien - organisiert wurde.

 

Infos zur Konferenz

 ROR-n Refugee Outreach & Research Network