25.06.2020 | Coronavirus in Ägypten

„Ein positiver Covid-19 Test ist für viele eine Katastrophe“

Krankenhäuser am Limit. Menschen, die einen positiven Covid-19-Test nicht riskieren können. Schlimme Folgen für die psychische Gesundheit. ÖAW-Sozialanthropologin Sabine Bauer-Amin beschreibt im Interview, warum die Bevölkerung Ägyptens schwer unter der Covid-19 Pandemie zu leiden hat.

Desinfektion einer Straße im ägyptischen Tourismusort Hurghada © Shutterstock

Die Angst vieler Ägypter/innen ist groß. Das öffentliche Gesundheitssystem Ägyptens war schon vor der Krise unzulänglich. Covid-19 ist es nicht gewachsen. Dabei sind es nicht die gesundheitlichen Folgen einer Erkrankung, die viele fürchten. Wer am Existenzminimum lebt, kann sich Krankheit, Arbeitsausfall und soziale Stigmatisierung schlicht nicht leisten. Aber auch der Faktor psychische Gesundheit macht Sabine Bauer-Amin Sorgen. „Viele ehemalige Aktivist/innen leiden seit Jahren an Angstzuständen, Panikattacken oder Depressionen“, erklärt die Ägyptenexpertin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Isolation und Unsicherheit während der Corona Krise reaktivieren nun alte Traumata.

Offizielle Infektionszahlen aus Ägypten gelten als nicht unbedingt vertrauenswürdig. Lässt sich einschätzen, wie sehr das Virus tatsächlich im Land verbreitet ist?

Sabine Bauer-Amin: Lange Zeit waren die offiziellen Zahlen sehr niedrig. Auch die Maßnahmen der Regierung sind vergleichsweise locker. Einen vollständigen Lockdown gibt es in Ägypten nicht. Von Seiten der Regierung wurde lediglich eine Ausgangssperre zwischen 19 Uhr abends und 6 Uhr morgens eingeführt. Zudem werden die Menschen zum „social distancing“ angehalten. Verstöße werden teils hart bestraft, beispielsweise mit Haftstrafen. Mittlerweile steigen die Infektionszahlen aber auch offiziell an und der ägyptische Minister für höhere Bildung hat Schätzungen veröffentlicht, die von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgehen. Erklärt wird das mit der Tatsache, dass 80 Prozent der Infizierten keine Symptome zeigen. Man muss aber auch dazusagen, dass in Ägypten nur relativ wenig PCR-Tests durchgeführt werden.

Oft lassen sich Menschen mit Krankheitsanzeichen gar nicht erst testen, weil sie Angst vor den finanziellen oder sozialen Konsequenzen eines positiven Testergebnisses haben.

Bis April wurden grundsätzlich nur Personen getestet, die aus dem Ausland zurückkamen oder direkten Kontakt mit bestätigten Coronapatient/innen hatten. Mittlerweile werden auch Personen, die eine Kombination an typischen Symptomen zeigen, getestet. Flächendeckende Testung wird nicht betrieben. Zudem ist Ägypten demographisch gesehen ein sehr junges Land, sodass viele Betroffene vermutlich nur schwächere Symptome zeigen und diese womöglich gar nicht als COVID-19-Symptome wahrnehmen. Oft lassen sich aber auch Menschen mit Krankheitsanzeichen gar nicht erst testen, weil sie Angst vor den finanziellen oder sozialen Konsequenzen eines positiven Testergebnisses haben.

Welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen kann ein positiver Covid-19-Test haben?

Bauer-Amin: Viele Ägypterinnen und Ägypter leben seit Jahren am Existenzminimum. Sie haben keine finanzielle Absicherung. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien sind auf ihr Einkommen angewiesen. Das heißt, viele Menschen müssen auch mit Covid-19-Symptomen ihrer Arbeit nachgehen, um den Lebensunterhalt für sich und die Familie zu sichern. Eine positive Testung auf Covid-19 wäre für sie eine finanzielle Katastrophe. Ein weiterer Grund, warum viele Personen die Testung scheuen, ist das soziale Stigma, das mit der Ansteckung einhergeht. Da das staatliche Sozialsystem sehr wenig ausgeprägt ist, sind viele Menschen auf Unterstützung in Nachbarschafts- und Familiennetzwerken angewiesen. Eine Ansteckung bedeutet für sie nicht nur soziale Isolation, sondern auch den Wegfall von essentieller Unterstützung.  

Schon vor Ausbruch der Pandemie wurden immer wieder Missstände im öffentlichen Gesundheitssystem angeprangert. Wie ist die Situation jetzt?

Bauer-Amin: Das öffentliche Gesundheitssystem ist seit Jahren gebeutelt und war auf diese Pandemie nicht vorbereitet. Private Einrichtungen, die reicheren Ägypter/innen vorbehalten bleiben, sind wesentlich besser ausgestattet. In öffentlichen Krankenhäusern sind die Kapazitäten bereits jetzt erschöpft. Es mangelt an Betten, Masken, Medikamenten, Krankenpfleger/innen und Ärzt/innen.

In öffentlichen Krankenhäusern sind die Kapazitäten bereits jetzt erschöpft. Es mangelt an Betten, Masken, Medikamenten, Pflegekräften und Ärzt/innen.

Das Gesundheitspersonal kann zudem nicht ausreichend geschützt werden, weshalb es unter ihnen besonders viele Covid-19-Infizierte gibt. Mediziner/innen und Pflegepersonal machen 13 Prozent der bestätigten Coronafälle aus. Durch Aktionen wie Online-Kampagnen, in denen Videos von miserablen Arbeitsumständen über soziale Medien geteilt werden, versucht das Gesundheitspersonal immer wieder auf die Missstände aufmerksam zu machen. Bereits Ende März twitterten Ärzt/innen aus Krankenhäusern, dass Schutzmasken ausgegangen waren. Diese Aussagen wurden vom Gesundheitsministerium stark kritisiert und die jeweiligen Ärzte und Ärztinnen sofort zur Rechenschaft gezogen.

Große Probleme gibt es auch im Bereich der psychischen Gesundheit. Warum ist das in Ägypten so dramatisch?

Bauer-Amin: Viele Menschen leiden an den Langzeitfolgen der Revolution und der Gewalt in den Jahren danach. Das betrifft vor allem jene Personen, die 2011 und in den Folgejahren auf den Straßen waren. Diese Gruppe ist jetzt Ende 20, Anfang 30. Viele von ihnen haben selbst Folter und Gewalt erlebt. Oder jemand, der ihnen nahestand, ist verschwunden und später gefoltert in einem Gefängnis wieder aufgetaucht. Die meisten leiden immer noch unter den Folgen dessen, was sie damals erlebt haben. Sie haben bereits seit Jahren Depressionen, Angstzustände oder Panikattacken, die sich jetzt im Zuge der zusätzlichen Belastung durch die Pandemie verstärken. Die derzeit starke Isolation weckt Erinnerungen an die Ungewissheit der vergangenen Jahre. Bei vielen Betroffenen löst das Gefühle der Ohnmacht und ständigen Bedrohung aus.

Viele Menschen leiden an den Langzeitfolgen der Revolution und der Gewalt in den Jahren danach. Sie haben bereits seit Jahren Depressionen, Angstzustände oder Panikattacken, die sich jetzt im Zuge der zusätzlichen Belastung durch die Pandemie verstärken.

Diese Menschen haben sehr schlechte Erfahrungen mit dem Staat, staatlichen Anordnungen und Ausnahmezuständen gemacht. Jetzt wird plötzlich der Ausnahmezustand als Lösung präsentiert, um die Bevölkerung zu schützen und die Krise zu meistern. Das ist für viele Personen sehr widersprüchlich. Sie wissen nicht, wem sie glauben können oder wo sie vertrauenswürdige Informationen zur aktuellen Situation erhalten. Die Mehrheit der Betroffenen ist außerdem nicht in Therapie, sondern versucht sich alleine durchzuschlagen. Diejenigen, die in Behandlung sind, können diese derzeit oft nicht mehr weiterführen. Die psychiatrischen Kliniken sind geschlossen. Manche Therapeut/innen haben ihr Angebot auf Zoom verlagert, was für viele politische Aktivist/innen aber keine Option darstellt. Zum einen sind diese Sitzungen sehr teuer. Zum anderen  wollen sie weder von den Familien noch von anderer Seite abgehört werden.

 

AUF EINEN BLICK

Sabine Bauer-Amin studierte Kultur- und Sozialanthropologie an der Ludwig Maximilians-Universität München und der Pariser Sorbonne. Sie promovierte an der Universität Wien und der Amercian University in Kairo. Derzeit ist sie PostDoc-Researcher am Institut für Sozialanthropologie der ÖAW. Zahlreiche Feldforschungen führten sie nach Ägypten sowie in den Libanon und nach Syrien.