29.01.2021 | Katastrophen-Literatur

Die Lust am Schrecklichen

Kein anderes Genre in der Literatur sei heute so bedeutend wie der dystopische Roman, sagt Federico Italiano. Der Literaturwissenschaftler erforscht an der ÖAW, welchen Niederschlag aktuelle Debatten, etwa um die Klimaerwärmung, in jenen Romanen und Filmen finden, die publikumswirksam von der Katastrophe erzählen. Und er fragt danach, wie die gegenwärtige Pandemie den dystopischen Roman verändern könnte.

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Zwei Dinge haben alle Dystopien gemeinsam: Sie spielen in der Zukunft und sie gehen schlecht aus. Noch vor einem Jahr hätte auch eine Pandemie gut in dieses literarische Genre gepasst. Inzwischen hat die Realität die Dystopie überholt, wenngleich hoffentlich mit einem besseren Ausgang zu rechnen ist als in den meisten Katastrophenfilmen zu Seuchen.

„Dystopien sind Gedankenexperimente“, sagt Federico Italiano vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie sollen in aufklärerischem Sinne aufrütteln und zeigen: „Wenn wir so weiter machen, könnte dieses oder jenes passieren“, so Italiano.

Wer die erste Dystopie „erfunden“ hat, woher die literarische Lust am Schrecklichen kommt und wie die Dystopien einer Post-Coronazeit aussehen könnten, erzählt Literaturwissenschaftler Italiano im Interview.   

Gegenwärtig blicken wir nicht unbedingt optimistisch in die Zukunft, eher könnte man die Stimmung „dystopisch“ nennen. Aber woher stammt eigentlich der Begriff Dystopie?

Federico Italiano: Dystopie ist nicht ohne Utopie zu denken, und der erste, der das Wort einführte, war John Stewart Mill in einer parlamentarischen Rede im Jahr 1868. Er verwendete es als Antonym zu Thomas Morus‘ „Utopia“, jener phantastischen Insel, auf der angeblich alles perfekt funktioniert, wobei das Gegenteil zu „Dystopie“ korrekterweise „Eutopia“ (guter Ort) heißen müsste: U-topie, U-topos heißt ja wörtlich „kein Ort“, bezeichnet also einen Ort der (noch) nicht existiert.
Interessant ist aber, dass die Dystopie von Anfang an mit der Idee eines – negativ besetzten – Raumes verknüpft ist, und dass es vor John Stewart Mill nicht wirklich ein Konzept der Dystopie gab. Er war der erste, der sich auf diese umkehrend satirische Weise mit Utopia auseinandersetzte, genau weil zu seiner Zeit auch die ersten utopischen Gesellschaftsentwürfe aufkamen.

Die Dystopie ist ein Kind und eine Folge der Aufklärung.

Aber ist die Idee eines dystopischen Szenarios nicht viel älter, etwa als christliche Höllenvorstellung, oder auch als grausame Darstellung des Jenseits im Gilgamesch-Epos?

Italiano: Ich würde die auf Religion basierenden apokalyptischen Vorstellungen nicht mit der Dystopie gleichsetzen. Es ist wahr, dass dysphorisches Denken sehr alt ist, vermutlich ist es sogar eine anthropologische Konstante, und in jeder Religion gibt es die starke Unterscheidung von Gut und Böse. Aber Dystopien im eigentlichen Sinn sind ein moderneres Phänomen, immer verbunden mit gesellschaftlichen Utopien und einer politischen Analyse der Gegenwart. Sehr grob gesprochen und etwas überzeichnet könnte man behaupten, dass die Dystopie ein Kind und eine Folge der Aufklärung ist. Jetzt ist der Mensch verantwortlich, es gibt keinen Gott, wir selbst schaffen Ordnung oder Unordnung. Wir sind unsere eigenen Zerstörer.

Welche Funktion haben Dystopien?

Italiano: Es sind Gedankenexperimente, die auf einer postaufklärerischen Skepsis aber auch einer wissenschaftsorientieren Sicht auf die Welt basieren: Wenn wir so weiter machen, könnte dieses oder jenes passieren. Dazu gibt es dann verschiedene dystopische Szenarien: Die staatliche Überkontrolle ist ein beliebtes Thema, aber auch Pandemien, Naturkatastrophen, Nuklearkriege usw. Diese verschiedenen Settings teilen sich dann wieder in Subgenres auf, etwa die Genderdystopien, die oft auf Fruchtbarkeitsszenarien beruhen. Da werden wir mit der dramatischen Idee konfrontiert, dass der Nachwuchs ausbleibt und die Gesellschaft langsam zugrunde geht, wie im Falle von Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ (1985) oder P. D. James „The Children of Men“(1992, verfilmt 2006). Nebenbei gesagt spielt der letztere Roman im England des Jahres 2021.

Die gesamte Weltliteratur besteht aus der Beschreibung dessen, was uns am meisten weh tut.

Es macht Schriftsteller/innen und Filmemacher/innen offenbar Vergnügen, sich genau solche Szenarien vorzustellen – eine Menschheit, die nicht mehr so existiert, wie wir sie kennen. Solche dystopischen Szenarien geben die Möglichkeit, sozusagen die „Reset-Taste“ zu drücken und sich eine neue, auf anderen Grundlagen beruhende Gesellschaft auszudenken.

Es gibt also offenbar eine Lust an der Darstellung des Schrecklichen?

Italiano: Die gesamte Weltliteratur besteht aus der Beschreibung dessen, was uns am meisten weh tut. Nehmen Sie Homers „Ilias“, das ist nichts anderes als ein Schlachtbericht, wenn auch wunderbar geschrieben. Unsere Literatur ist aus Blut und Asche geboren und sie stellt immer die Frage: Wer überlebt und wer geht unter? Das ist auch ein Thema der Dystopien: Wie schafft man es, Hindernisse zu überwinden, zu überleben und trotzdem Mensch zu bleiben? Das ist es, was alle lesen wollen. Es gibt viel mehr Geschichten von Weltuntergängen und Kriegen, als man glaubt.

Welche literarischen Dystopien erinnern Sie besonders an die gegenwärtige Situation der Corona-Pandemie?

Italiano: Während des ersten Lockdowns habe ich George Orwells „1984“ noch einmal gelesen und war total gebannt, ich konnte zwei Tage lang nichts anderes tun als lesen, denn der Roman schien genau zu beschreiben, was manche Menschen sich gerade fragen: Ist dieses Virus real oder werden wir belogen? Was sind Fake News, was nicht? Wir müssen bedenken, dass es für Dystopien immer Gründungsnarrative gibt, auf die künftige Erzählungen dann in Varianten reagieren. Orwells „1984“ ist ein solcher Gründungstext, der sich seinerseits auf den noch früheren Roman „Wir“ des russischen Schriftstellers Jevgenij Samjatin bezieht, in dem Staatstotalitarismus satirisch auf die Spitze getrieben wird. Der Roman wurde zwischen 1919 und 1920 geschrieben, war bis 1980 in der Sowjetunion verboten, kursierte aber in englischer Übersetzung im Ausland und hat Orwell stark beeinflusst.

Leben in einem ewigen Lockdown. Ich kann mir vorstellen, dass solche Szenarien jetzt in der dystopischen Literatur und in Filmen wieder verstärkt auftauchen werden.

Werden „nach Corona“ andere, neue literarische Dystopien entstehen, was meinen Sie?

Italiano: Ich bin ungern Prophet, aber ich könnte mir vorstellen, dass in den nächsten Jahren eine vermehrte Produktion dystopischer Geschichten einsetzen wird, die um Informationstechnologien kreisen und um das Häusliche. In den eigenen vier Wänden müssen wir unsere Krise mit der Technologie und der eigenen Identität ausleben. Es gibt einen Topos in der Science Fiction, das so genannte „generationship“, ein Raumschiff, in dem viele Generationen hintereinander ihr Leben auf engstem und geschlossenem Raum verbringen müssen – da ist man in einem ewigen Lockdown. Ich kann mir vorstellen, dass solche Szenarien jetzt in der dystopischen Literatur und in Filmen wieder verstärkt auftauchen werden. In den meisten Fällen bedeutet ein solch geschlossener Raum für die Gesellschaft eine Verschlechterung, denn Abgeschiedenheit führt zu einer Verwilderung des Menschen. Ich kenne kaum Geschichten von generationships, die ein gutes Ende nehmen. Die Idee eines ewigen Lockdowns bringt definitiv das Schlechte im Menschen zum Vorschein.

 

AUF EINEN BLICK

Federico Italiano studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Mailand. Er promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, wo er sich 2016 in den Fächern Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanische Philologie habilitierte. Italiano ist Senior Researcher am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW mit Lehraufträgen an der LMU München und der Universität Innsbruck. Kürzlich veröffentlichte er das Buch „The Dark Side of Translation“ im Verlag Routledge.