07.09.2021 | Krisenregion

Der längste Frieden des Nahen Ostens

Der Nahe Osten war nicht immer ein Krisenherd. Die Iranisch-Türkischen Beziehungen im 17. Jahrhundert waren stabil, wie ein Forschungsprojekt der ÖAW nachweist, das nun die diplomatischen, politischen, religiösen und kulturellen Aspekte dieser viel zu wenig erforschten Epoche des Friedens beleuchtet.

Die Geschichte des Krieges im Nahen Osten ist besser erforscht als jene der Friedenszeiten. Die Abbildung zeigt Abbas II., Schah von Persien zwischen 1642 und 1666, mit dem Botschafter des Mogulreichs. Die beiden Länder gerieten immer wieder in Konflikt miteinander.  © Wikimedia Commons
Die Geschichte des Krieges im Nahen Osten ist besser erforscht als jene der Friedenszeiten. Die Abbildung zeigt Abbas II., Schah von Persien zwischen 1642 und 1666, mit dem Botschafter des Mogulreichs. Die beiden Länder gerieten immer wieder in Konflikt miteinander. © Wikimedia Commons

Internationale Diplomatie im frühneuzeitlichen Nahen Osten ist ein Feld, in dem noch vieles auszugraben und zu erschließen ist. Kriege und gewaltvolle Auseinandersetzungen sind besser erforscht als die Verhältnisse in Friedenzeiten. „Die Geschichtsschreibung konzentrierte sich bis vor wenigen Jahrzehnten weitgehend auf die großen Persönlichkeiten der Vergangenheit und ihre Taten, unter denen natürlich Kriege einen privilegierten Platz einnehmen“, erklärt Nahost-Experte Giorgio Rota von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) dieses Phänomen.

Höchste Zeit also, Friedensphasen und ihre komplexen Mechanismen unter die Lupe zu nehmen. „Der längste Frieden in der Frühmoderne des Nahen Osten“ nennt sich ein 2020 gestartetes Projekt von Selim Güngörürler am Institut für Iranistik der ÖAW. Gemeinsam mit Projektleiter Giorgio Rota untersuchen die beiden Iran-Experten darin die Koexistenz des Osmanischen Reiches und des safawidischen Iran vom Frieden von Zuhab (1639) bis zum Zusammenbruch der Safawiden-Herrschaft (1722).

Sie korrigieren damit aber auch unser gängiges Bild vom Nahen Osten als ständigem Krisenherd. Und zeichnen einen sehr pragmatischen Zugang in Bezug auf das Verhältnis von Politik und Religion. „In den internationalen Beziehungen bezogen sich Staatsmänner oft auf Religion, solange sie ihren politischen Zielen diente. Wenn es schien, als könnten religiöse Themen einer diplomatischen Initiative schaden, nahmen sie Religion einfach von der Tagesordnung“, so Güngörürler im Gespräch.

Berge von Dokumenten

Der Nahe Osten ist in unserem Denken nicht mit der Vorstellung von Frieden verbunden. Wie sind Sie auf Ihren Forschungsansatz gekommen?

Giorgio Rota: Das stimmt schon, wir sind geprägt von den Ereignissen der letzten Dekaden und tendieren dazu, diese in die Vergangenheit zu projizieren. Die Wahl für unser Forschungsthema waren relativ einfach: Als Spezialisten für die Safawiden-Periode (1501– 1736) im Iran wussten wir, dass sich noch niemand mit den Beziehungen der Ottomanen und Safawiden in den Jahren 1639–1722 auseinandergesetzt hatte. Mein Kollege Selim Güngörürler hatte den Mut, dieses Neuland zu betreten.

Schlachten, Belagerungen und Waffenstillstände erzeugen ihre eigene Papierspur, die leicht zu finden ist. Friedenszeiten hingegen liefern uns kaum markante historische Wahrzeichen."

War es schwierig, dieses Material zu finden?

Selim Güngörürler:  Für fast jeden einzelnen Fall, der in unseren thematischen Rahmen fällt, müssen wir in handschriftlichen Registerbänden mit Tausenden von Einträgen oder in nicht katalogisierten Bergen von Dokumenten ein paar Informationszeilen aufspüren. Ich freue mich jedoch, dass sich unsere „Ausgrabung“ als lohnend erwiesen hat, sogar mehr als wir zu Beginn dieser Reise erwartet hatten.

Kaum bekannte Friendenszeiten

Warum wissen wir so wenig über diese Epoche?

Rota: Die Geschichtsschreibung konzentriert sich bis vor wenigen Jahrzehnten weitgehend auf die großen Persönlichkeiten der Vergangenheit und ihre Taten, unter denen natürlich Kriege einen privilegierten Platz einnehmen. Tatsächlich spielten Kriege in der Menschheitsgeschichte eine enorme Rolle, sie waren unter anderem ein wichtiger Faktor für die soziale Mobilität.

Güngörürler:  Kriege bieten Wissenschaftler/innen eine übersichtliche und relativ kompakte Quellensammlung. Schlachten, Belagerungen und Waffenstillstände erzeugen ihre eigene Papierspur, die vergleichsweise leicht zu finden ist. Friedenszeiten hingegen liefern uns kaum markante historische Wahrzeichen. Aus diesem Grund haben Kriege mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und wir wussten am Ende wenig über Wechselwirkungen in Friedenszeiten.

Auch in der islamischen Welt bestimmte Religion selten Politik oder Diplomatie, sondern Politik und Diplomatie benutzten die Religion, um ihre eigenen Ziele zu erreichen."

Wie funktionierten diplomatische Beziehungen damals?

Güngörürler:  Mangels eines Krieges als treibender Kraft war die Friedensdiplomatie sehr elaboriert, zeremoniell und sogar allegorisch aufgeladen. Dank solcher Überlagerungen erfahren wir beispielsweise, dass diplomatische Höflichkeit dazu diente, politische Spannungen auszustellen. Ein andauernder Streit zwischen den Staaten drückte sich vielleicht nicht in Worten aus, sondern durch eine spezielle Gestaltung einer musikalischen Darbietung bei einer Freiluftparty, die von einem Großwesir zu Ehren eines besuchenden Botschafters veranstaltet wurde.

Politik und Diplomatie benutzten Religion

Welche Rolle spielte die Religion dabei?

Rota: Unsere Fallstudie bestätigt, dass auch in der islamischen Welt und in der frühen Neuzeit Religion oder andere Formen von Ideologie selten Politik oder Diplomatie bestimmten, sondern Politik und Diplomatie die Religion benutzten, um ihre eigenen Ziele zu erreichen.

Diplomatie wird meist hinter verschlossenen Türen gemacht. Realität und Schein stimmen selten überein; politische Notwendigkeiten machen seltsame Bettgenossen."

Güngörürler:  Religion war in der frühen Neuzeit eher ein Instrument der Nahost-Diplomatie. Unabhängig davon, was oder ob sie glaubten, stellten Politiker und Bürokraten die vorherrschenden religiösen Ansichten ihrer ausländischen Kollegen nicht in Frage. Realpolitik bestimmte ihr Handeln. In den internationalen Beziehungen bezogen sich Staatsmänner oft auf Religion, solange sie ihren politischen Zielen diente. Wenn es schien, als könnten religiöse Themen einer diplomatischen Initiative schaden, nahmen sie Religion einfach von der Tagesordnung.

Realität und Schein stimmen selten überein

Können wir etwas aus dieser Periode der Nahost-Geschichte lernen?

Rota: Ich würde sagen, dass unsere Recherchen bestätigen, was man schon aus anderen Epochen weiß oder wissen sollte: Diplomatie wird meist hinter verschlossenen Türen gemacht. Realität und Schein stimmen selten überein; politische Notwendigkeiten machen seltsame Bettgenossen; Ideologie ist eher ein Vorwand als die Ursache der Dinge. Es gibt jedoch mindestens eine auffällige Parallele zu den modernen Beziehungen zwischen dem Westen und dem Nahen Osten. Während der Safawidenzeit hofften die katholischen Mächte Europas, dass der Iran ein militärischer Verbündeter gegen die Osmanen sein könnte. Aber sie erkannten nicht, dass der Iran sehr oft vor 1639 und immer nach diesem Datum sehr unterschiedliche strategische Prioritäten hatte.

Mit anderen Worten, eine Lehre für uns heute ist, dass ausländische Diplomatie ohne gründliche Kenntnis sowohl der vermeintlichen Freunde als auch der potenziellen Gegner nicht effektiv sein kann. Und natürlich sind die Feinde unserer Feinde nicht automatisch unsere Freunde, wie die jüngsten Ereignisse in Afghanistan einmal mehr zeigen.

 

AUF EINEN BLICK

Giorgio Rota  ist Iranist und Historiker. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Zuvor lehrte er u.a. an der l’Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris, der Universität Triest und der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Selim Güngörürler  ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iranistik der ÖAW. Zuvor forschte er u.a. in Istanbul, Berlin und an der Georgetown University in den USA.

Das Projekt „The Longest Peace of the Earyl Modern East“  ist 2020 gestartet und läuft noch bis zum Jahr 2023. Es wird gefördert vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF.