29.10.2018

Der Krieg, der nicht endete

Der Erste Weltkrieg war mit 1918 nicht beendet – seine Folgen reichten viel weiter, sagt der irische Historiker John Horne. Er war bei einer großen Konferenz der ÖAW zu Gast, die das Schicksalsjahr 1918 neu in den Blick nahm.

Die Ausrufung der Republik vor dem Parlament in Wien am 12. November 1918 © ANNO/ÖNB

Kein Zweifel: Im November 1918 endete der Erste Weltkrieg. Und doch nicht so ganz. Der Schlusspunkt des beispiellos grausamen Konflikts bedeutete auch das Auseinanderbrechen von politischen Großmächten wie Österreich-Ungarn oder des Osmanischen Reichs. Neue Staaten entstanden, ebenso wie neue Konflikte. Auf dem Trümmerfeld des Ersten Weltkriegs kehrte keine Ruhe ein. Europa vor 100 Jahren war ein Kontinent im Umbruch.

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) nahm das 100-jährige Gedenken an 1918 zum Anlass, dieses Schicksalsjahr neu zu beleuchten. Bei der Konferenz „Vermessung einer Zeitenschwelle. Die Bedeutung des Jahres 1918 in europäischer und globaler Perspektive“ waren vom 3. bis 6. November 2018 rund 50 Redner/innen aus dem In- und Ausland in Wien zu Gast, die die jüngsten Erkenntnisse aus unterschiedlichsten Forschungsfeldern zum Jahr 1918 zur Debatte stellten.

Einer von ihnen ist John Horne. Der Historiker vom Trinity College in Dublin hat mehrere Bücher und hunderte Aufsätze zum Ersten Weltkrieg verfasst. Im Interview erklärt er, warum der Krieg viel weiter reichte, als bis zu seinem Ende im November 2018.

Wir dachten eigentlich zu wissen, wann der Erste Weltkrieg endete. Sie sagen, so einfach ist das nicht. Warum?

John Horne: Schon immer wurde uns beigebracht, dass der Erste Weltkrieg am 11. November 1918 endete. An diesem Tag legten die Hauptmächte ihre Waffen an den verschiedenen Fronten nieder und die Vorbereitungen für die Friedenskonferenz in Paris wurden damit eingeleitet. Obwohl wir dieses offizielle Ende des Krieges kennen, stelle ich noch einmal die Frage: „When did the Great War End?“ Der Erste Weltkrieg fand sein Ende nämlich nicht im November 1918, sondern bereits ein Jahr früher im Osten, mit dem Ausstieg Russlands aus dem Krieg und mit der Revolution der Bolschewiki.

 

Der Erste Weltkrieg reichte viel weiter, als bis zum 11. November 1918, an dem er für beendet erklärt wurde.

 

Später ereigneten sich Unabhängigkeitsbewegungen Irland, in Zentral- und Osteuropa, im Nahen Osten. Das war das Resultat eines größeren Krieges, der in den Jahren 1911 und 1912 mit der italienischen Invasion des osmanischen Libyens und der Balkankriege, 1912 und 1913, begonnen hatte und dessen zeitliches Epizentrum man den Jahren 1914 bis 1918 zurechnen kann. Dieser Krieg hat sich jedoch in verschiedenen Formen bis 1923 gehalten. Neue Konflikte entwickelten sich mit den Nationalstaaten, die aus den Ruinen des russischen, des Habsburger und des Osmanischen Reichs hervorgingen. Internationale Klassenkämpfe, initiiert durch die Bolschewiki gehören ebenfalls zu dieser Reihe neuer Konflikte. Neue Grenzziehungen der arabischen Provinzen des ehemaligen Osmanischen Reichs durch die Briten und die Franzosen trugen ebenso zu schweren Unruhen bei, die bis heute andauern. Der Erste Weltkrieg reichte also viel weiter, als bis zum 11. November 1918, an dem er für beendet erklärt wurde. 

Was waren die langfristigen Folgen des Ersten Weltkriegs für die Geschichte?

Horne: Es gab einen noch brutaleren Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die ideologische und militärische Sackgasse des Kalten Krieges. Nationalstaaten hätten sich wahrscheinlich ohnehin entwickelt, dennoch sind sie direkt mit dem Ersten Weltkrieg verbunden. Die Nation, mit einer gemeinsamen Sprache und – im Vergleich zu Imperien – überschaubaren Gemeinschaft, wurde nach dem Krieg zur bestmöglichen „imaginierten Institution“. Neue Konflikte rund um zurückgedrängte Minderheiten, gegen die Hetze betrieben wurde, entstanden. Durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion erlitt Europa in den 1940er-Jahren eine erschreckende  und katastrophale Simplifizierung von Gesellschaften und Menschengruppen auf national gedachte Staaten. Etwas, das sich im Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren wiederholen sollte. Heute sehen wir neue nationale Konflikte in der Ukraine als auch den Aufstieg eines populistischen Nationalismus in Europa – mit neuen Stereotypen, neuen Sündenböcken und einer neuen Intoleranz gegenüber Minderheiten.

 

Nationalstaaten hätten sich wahrscheinlich ohnehin entwickelt, dennoch sind sie direkt mit dem Ersten Weltkrieg verbunden.

 

Wie hat sich der Blick der Forschung auf 1918 im Laufe der Zeit verändert?

Horne: In Anlehnung an die Historiker Jay Winter und Antoine Prost und ihr Buch „The Great War in History“ könnte man von drei Wellen der Forschung sprechen. Bis in die 1960er-Jahre gab es einen Fokus auf militärische Strategien und die politische und diplomatische Geschichte – also die Frage: wer sind die Siegermächte und warum? Danach rückten soziale Fragen in den Mittelpunkt. Forscher/innen interessierten sich für die industrialisierte Gesellschaft, die Revolutionen und die Geschichte der Frauen zu dieser Zeit. Und seit den 1990er-Jahren hat die Kulturgeschichte neue Paradigmen eingeleitet. Die Frage, ob diese Paradigmen auch heute noch zeitgemäß sind, behandle ich in einem Aufsatz, der in Kürze erscheinen wird.

Was ist das Besondere am kulturgeschichtlichen Zugang zum Ersten Weltkrieg, der in jüngerer Zeit verfolgt wird?

Horne: Die Kulturgeschichte hat sich nicht nur dafür interessiert, wie der Krieg von Künstlern, Intellektuellen, Journalisten und anderen dargestellt wurde, sondern auch welche persönlichen Erfahrungen er mit sich brachte. Schließlich war der Erste Weltkrieg, wenn man so will, das erste Ereignis, das die Massen prägte. Es kamen auch neue Quellen auf, die bislang vernachlässigt wurden, wie zum Beispiel die Literatur der Veteranen des Krieges. Die Frage ist, wie man den kulturhistorischen Ansatz erneuern kann, insbesondere, indem man auch Faktoren wie Macht, Demografie und materielle Ressourcen stärker miteinbezieht.

 

Die ultimative Herausforderung besteht darin, eine Globalgeschichte des Ersten Weltkriegs zu schreiben.

 

Ist zum Ersten Weltkrieg alles gesagt oder gibt es noch Forschungslücken?

Horne: Obwohl der Erste Weltkrieg eingehend erforscht wurde, gibt es nach wie vor ein Forschungsdesiderat: Die ultimative Herausforderung besteht darin, eine Globalgeschichte des Ersten Weltkriegs zu schreiben. Und das führt mich wieder zurück zur Konferenz an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: Um die Transformationen dieser Kriegsepoche besser zu verstehen, müssen wir letztendlich auch die Zeiträume des Kriegs, abseits seines offiziellen Beginns oder Endes, ausweiten. Nur so können wir die vielen Folgen des Krieges für das nachfolgende Jahrhundert verstehen und erforschen. 

 

John Horne ist Historiker und Professor em. am Trinity College Dublin sowie Mitglied der Royal Irish Academy. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit  Robert Gerwarth das Buch „War in Peace: Paramilitary Violence in Europe after the Great War“ (Oxford University Press, 2012). Im Februar 2019 erscheint ein neuer Aufsatz mit dem Titel “End of a Paradigm? The Cultural History of the Great War” im Fachjournal “Past & Present”.

Die Keynote Lecture der Konferenz „Vermessung einer Zeitenschwelle“ wurde am 3. November 2018 von John Horne unter dem Titel „When did the Great war end?“ im Festsaal der ÖAW gehalten.

Die Konferenz „Vermessung einer Zeitenschwelle. Die Bedeutung des Jahres 1918 in europäischer und globaler Perspektive“ fand vom 3. bis 6. November 2018 an der ÖAW statt.
 

Programm der Konferenz