Die richtige Herangehensweise öffnet neue Räume. Fragt man Migrant/innen, wie ihre Haltung zu den jeweils ‚Anderen‘ ist, kommen oft verhärtete, unpersönliche Antworten. Je länger man aber Menschen über persönliche Erfahrungen erzählen lässt, desto reichhaltiger wird das Ergebnis, davon ist die Kulturwissenschaftlerin Ariane Sadjed überzeugt. „Mitunter stellt sich dann heraus, ihre Nachbarn waren Muslime, die ihnen bei der Flucht geholfen haben“, sagt die Wissenschaftlerin vom Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sadjed möchte daher mit ihrem aktuellen Forschungsprojekt Brücken schlagen: „Durch den Fokus auf Biografien und Alltagserfahrungen können Topoi der Differenz, wie sie in medialen oder politischen Debatten geführt werden, hinterfragt und aufgebrochen werden.“
Auf der Suche nach gemeinsamen Erfahrungen
Ihre Herangehensweise unterscheidet sich von Untersuchungen, die Minderheiten als homogene Gruppen betrachten, die in erster Linie durch religiöse oder ethnische Merkmale definiert sind. Ohne vereinfachen zu wollen, soll die Frage im Zentrum stehen, welche möglichen gemeinsamen Erfahrungen Migrant/innen gemacht haben. „In Erinnerungen und Erzählungen gibt es oft etwas Verbindendes. Mir geht es auch darum, mehr Graustufen in die Forschung zu bringen“, betont Sadjed.
Gefördert wird das Forschungsprojekt vom 1000-Ideen-Programm des Wissenschaftsfonds FWF, der damit originelle und unkonventionelle Ideen unterstützten will, deren Ausgang offen ist. Auch für Sadjed ist nicht von vornherein klar, welche Ergebnisse ihre Untersuchung bringen wird. Man müsse achtsam vorgehen, um mit Menschen in Kontakt zu treten, die Außenstehenden gegenüber verschlossen sein können.
Menschen zum Erzählen bewegen
Die Auswahl der Communities erfolgte anhand von Kriterien, die sowohl Gemeinsamkeiten (etwa Sprache oder regionale Herkunft) als auch Unterschiede (Gründe der Auswanderung, sozio-ökonomischer Status) aufweisen. Untersucht werden je zwei jüdische und zwei islamische Gruppen. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, dass diese sich als „religiös“ im praktizierten Sinn definieren. Die Zugehörigkeit kann auch kulturell oder über Traditionen verstanden werden. Einerseits sind dies die Bucharischen Juden, die seit den 1980er-Jahren in Wien leben. Das sind Migrant/innen aus Usbekistan oder Tadschikistan, die auf dem Weg in die USA oder nach Israel in Wien geblieben sind, erklärt Sadjed. Sie sprachen - und sprechen teilweise noch - persisch, teilten vor Jahrhunderten mit Muslimen Sprache und einen Kulturraum. Was ist von dieser Erfahrung in persönlichen Geschichten noch vorhanden? Was ist nach wie vor ein gemeinsamer Resonanzraum? Auf welche Identitäten und Zugehörigkeiten berufen sich die Gemeinschaften? Und ändern sich diese Werte mit der Zeit?
Eine weitere Gruppe: Afghanen in Wien. Sie sind ebenfalls persisch-sprachig, haben allerdings wenig etablierte Netzwerke und sind durch den andauernden Krieg in ihrer Heimat in einer sozio-ökonomisch marginalisierten Position. Sadjed interessiert, was diese unterschiedlichen Ausgangssituationen gerade mit jungen Menschen machen.
Außerdem im Fokus: Bosnische Muslime, die eine lange Geschichte mit Österreich haben, weil sie bereits in der k.u.k.-Monarchie als islamische Minderheit anerkannt waren. Was erzählen sie über ihre einstige Heimat und über das Verhältnis zu bosnischen Juden? Wie hat das Massaker von Srebrenica Narrationen von Identität und Zugehörigkeit verändert? Wie sehr bestimmen politische Dynamiken die Selbstwahrnehmung? Und welche persönlichen Geschichten liegen dahinter, die vielleicht viel positiver sind?
Sadjed ist bewusst, wie hoch die Mauern zwischen den Communities bisweilen sind. Ihr geht es darum, Menschen zum Erzählen zu bewegen. Erreichen möchte sie das unter anderem durch das gemeinsame Lesen von Fluchtgeschichten. „Es soll ein Raum entstehen, in dem auch Menschen, die sich als religiös-traditionell definieren, offen erzählen können, Literatur kann den Blick öffnen“, sagt Sadjed. Und womöglich sind sie dann selber überrascht, wie divers und komplex ihre Identitäten und Zugehörigkeiten eigentlich sind.