22.02.2021 | Kunst und Kritik

Das Ende der Wiener Avantgarde

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg blühte in Wien eine avantgardistische Künstlerszene, nach 1924 jedoch wurde es still um sie. Hatte die Presse, allen voran das Feuilleton, einen Anteil am „Ende der Avantgarde“? Das hat ÖAW-Kunsthistoriker Maximilian Kaiser in einer neuen Studie untersucht.

"Blick einer Landschaft" ist ein Werk aus 1926 des avantgardistischen Malers Paul Klee.
"Blick einer Landschaft" ist ein Werk aus 1926 des avantgardistischen Malers Paul Klee. © Wikimedia Commons

Zimperlich gingen die österreichischen Zeitungen der 1920er-Jahre nicht gerade mit den bildenden Künstlern um. „Wenig Gutes läßt sich über den künstlich zur Größe ausgerufenen Paul Klee sagen. Hie und da finden sich vielversprechende Ansätze, aber rasch ertrinken sie in einem Meer gekünstelter Originalität“, schreibt etwa Viktor Trautzl in der „Reichspost“vom 22. März 1921 über eine Ausstellung in der Galerie Würthle und fährt fort: „immer wieder verliert [Klee] sich in kubistischen und futuristischen Spielerein, die weder er selbst noch seine Verehrer ernst nehmen können.“

In der „Wiener Zeitung“ vom 18. Oktober 1924 geht es noch härter zur Sache, generell werden Avantgardekünstler hier als „wenig sympathische Erscheinungen“ abgetan und ihre Kunstwerke als„Äußerungen einer mit vielerlei Krankheitsstoffen durchsetzten Übergangsperiode, die verschwinden werden.“ Der Kritiker,Hans Ankwicz-Kleehoven, hofft darauf, dass sich „gesunde, starke, geniale Künstlerpersönlichkeiten“ durchsetzen, die die Malerei wieder mit „ewig menschlichen Inhalt erfüllen werden“.

Im Streit zwischen Traditionalisten und Avantgarde wurde immer schon, seit deren Beginn mit der Gründung der Wiener Secession 1897, mit harten Bandagen gekämpft, „aber ab Mitte der 1920er-Jahre ist eine zunehmende Verrohung der Sprache zu beobachten“, sagt der Kunsthistoriker Maximilian Kaiser vom Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er vermutet, dass die Kunstkritiken der Zeitungen nicht ganz unschuldig waren am frühen „Ende der Wiener Avantgarde“ und dass sie auch den Weg bereiteten für das spätere Etikett der „entarteten Kunst“.

Ein Netzwerk der Argumente

Mitte der 1920er-Jahre hatten viele der umstrittenen Künstlerinnen und Künstler Wien bereits verlassen, ein Umstand, der oft als Begründung für das „Ende der Avantgarde“ gesehen wird. Dieser „Migrationsthese“ stellt Maximilian Kaiser in seiner Dissertation „Wiener Ansichten zur Kunst der Avantgarde“ eine „Diskursthese“ an die Seite. Um festzustellen, wie sich die Einstellung zur Avantgarde änderte, wertete er 300 Artikel aus Tageszeitungen zwischen 1918 und 1925 aus. Für die Kunstkritik des Expressionismus existiert bereits eine Forschungsarbeit, „aber was war mit den anderen ‚-ismen‘, also dem Futurismus, dem Kubismus, dem Konstruktivismus, dem Kinetismus? Auch das wollte ich herausfinden“, erklärt Kaiser.

In seine Untersuchung bezieht er nicht nur Tageszeitungen ein, sondern auch autobiografisches Material verschiedener Kunstkritiker, so etwa die Tagebücher von Arthur Roessler (geb. 1877), Erica Tietze-Conrat (geb. 1883) und Adalbert Franz Seligmann (geb. 1862). Seligmann hatte selbst eine Kunstakademie besucht und als Maler gearbeitet, bevor er zum gefürchtet-bissigen Kunstjournalisten wurde, der unter anderem in der "Neue Freie Presse“ gegen die Avantgarde polemisierte.

Maximilian Kaiser arbeitet in seiner Studie mit der Methode der Diskurs-Netzwerkanalyse, wobei er mittels digitaler Datenauswertung Cluster verschiedener Argumente pro/contra Avantgarde, aber auch Beziehungen zwischen Personen sichtbar macht. Welche Argumente werden wann und wie oft und von wem benutzt? Wer schreibt wie oft in welchen Zeitungen und welche Ausstellungsereignisse fanden ihren Niederschlag im Feuilleton? „Ich habe viele Namen von Kritikern gefunden, aber auch von Künstlern und Künstlerinnen, die man heute gar nicht mehr kennt“, sagt Kaiser.

Die Macht der Kunstkritik

Aber warum haben die Tageszeitungen so stark auf die Avantgardekunst reagiert? Und hatte ihr Urteil wirklich so viel Macht? Jedenfalls wurde es nach heftigen Debatten der 1920er-Jahre plötzlich still um die progressive Kunstszene der Hauptstadt, noch lange bevor die nationalsozialistische Herrschaft jeder Avantgardekunst ein Ende bereitete. 1930 schrieb der Kunsthistoriker Hans Tietze in einer Flugschrift rückblickend: „Sogar in den Witzblättern waren die verschiedenen »ismen« eine ständige Rubrik … . Aber das war damals, heute [also 1930] kräht kein Hahn mehr danach, und wenn ein Streit um künstlerische Dinge geführt wird, so hört ihm niemand zu als die paar Leute, die beruflich damit zu tun haben; und auch die meistens ungern.“ 

Wiederentdeckt wurde Avantgardekunst in Wien nicht direkt nach 1945, sondern erst gegen Ende der 1970er-Jahre. „Die Vorurteile der Zwischenkriegszeit und auch der Kriegszeit haben sich nach 1945 lange gehalten“, sagt Kaiser. Die Geschichte der Kunstkritik und ihrer Einflüsse ist ein Desiderat der Forschung. Über die Wiener Kunstkritik der Zwischenkriegszeit aber weiß man nun einiges mehr.

 

AUF EINEN BLICK

Publikation:

Maximilian Kaiser: „Wiener Ansichten zur Kunst der Avantgarde. Geschichte, Netzwerk und Diskurs der Kunstkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“ new academic press, Wien/Hamburg 2020.