07.01.2019

Bibliothek des Mittelalters 2.0

25.000 mittelalterliche Handschriften befinden sich in den Klöstern und Bibliotheken Österreichs. Für die Online-Plattform manuscripta.at werden sie wissenschaftlich erschlossen und digitalisiert. „Damit haben Menschen weltweit Zugang zu unserem kulturellen Erbe“, erklärt ÖAW-Wissenschaftlerin Christine Glaßner.

Szene aus dem Prunk-ABC-Buch für Maximilian I., einer Handschrift aus der Zeit um 1465 © Österreichische Nationalbibliothek

Bibeln, Kochbücher, Reiseberichte, medizinische Fachschriften, Predigten sowie Schulbücher. „Man findet in den 25.000 mittelalterlichen Handschriften alles, was man sich nur vorstellen kann, wenngleich der Großteil natürlich die Theologie betrifft“, erzählt Christine Glaßner vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Bisher konnte man diesen Buchschatz des Mittelalters nur an Ort und Stelle in den jeweiligen Institutionen in Österreich einsehen und erforschen. Mit je rund 1.200 Exemplaren zählen die Bibliotheken in Melk und Klosterneuburg zu den größten klösterlichen Sammlungen. Aber auch öffentliche Bibliotheken, wie die Universitätsbibliotheken in Graz und Innsbruck und besonders die Österreichische Nationalbibliothek hüten eine große Anzahl mittelalterlicher Bücherschätze, die nicht für jeden leicht erreichbar sind. „Das wollen wir ändern und Forscher/innen und Interessierten aus der ganzen Welt über die Plattform manuscripta.at unmittelbar Zugang zu den Handschriften ermöglichen“, so Glaßner, die dieses umfangreiche Langzeitforschungsvorhaben an der ÖAW leitet.

Manuscripta.at ermöglicht Menschen aus der ganzen Welt unmittelbaren Zugang zu Handschriften des Mittelalters.

Die ersten Bücher gingen 2010 ins Netz, seither wächst die „Online-Bibliothek“ kontinuierlich. „Österreich hat hier wirklich eine unglaublich große und einzigartige Sammlung und unser Ziel ist, alle Handschriften in der Datenbank zu erfassen und so viele wie möglich in einer digitalen Kopie zugänglich zu machen.“ Derzeit kann man bereits in mehr als 500 Handschriften aus österreichischen Klöstern wie Admont, Klosterneuburg, Melk oder St. Peter in Salzburg virtuell blättern.

Einzigartige Schätze der Buchkunst

Zu den letzten besonderen Neuzugängen zählt eine der bedeutendsten Handschriften Österreichs: die Melker Annalen aus dem 12. Jahrhundert. Diese Handschrift beinhaltet einen Kalender mit allen Festtagen sowie ein Verzeichnis der Sterbetage jener Personen, die mit dem Kloster zu bestimmten Zeiten in Verbindung standen. „Das ist für uns von großer Bedeutung, da es das personelle Umfeld und Netzwerk des Klosters widerspiegelt und die verschiedensten Personengruppen umfasst: Landesherrn ebenso wie Klosterschüler.“ Ein Eintrag bezieht sich zum Beispiel auf eine Klausnerin (inclusa) Ava. Die Forschung sieht in ihr die erste namentlich bekannte Dichterin in deutscher Sprache, die wohl eng mit Melk verbunden gewesen sein muss, erläutert Glaßner.

Ebenso bedeutend ist der zweite Teil der Handschrift mit den eigentlichen Melker Annalen. Dabei handelt es sich um ein im Jahr 1123 angelegtes Verzeichnis, in das für jedes Jahr herausragende Ereignisse der Reichs-, Regional- und Hausgeschichte eingetragen sind, beginnend mit Christi Geburt und später fortgeführt bis ins 16. Jahrhundert. 

Auch das Melker Fragment des Nibelungenliedes, das erst 1998 entdeckt wurde, zählt zu den besonderen Highlights der Onlinesammlung. „Dieses kann man nun vom Schreibtisch aus genau studieren.“ Weltweit existieren von diesem bekanntesten deutschen Heldenepos rund drei Dutzend Handschriften, nur ein Drittel davon mit vollständigem Text, so Glaßner. „Bei den übrigen handelt es sich um  Fragmente, also Einzelblätter oder Blattreste. Österreich besitzt fünf Fragmente in Klagenfurt, Linz, Melk, Vorau und in der Nationalbibliothek in Wien, wo es dazu auch noch zwei vollständige Handschriften gibt.“

Detektivische Puzzlearbeit

Die Arbeit des Teams besteht aber bei weitem nicht nur darin, die durchschnittlich 500 Seiten umfassenden Handschriften hochauflösend zu digitalisieren. Vielmehr geht es darum, jedes Buch neu zu katalogisieren und den Inhalt der Bücher genau zu beschreiben. „Selbst kleinste Details sind dabei wichtig“, betont Glaßner.  „Wir bringen damit ein schwieriges Puzzle zusammen. Was wir sehen und was wir aus verschiedenen Details erschließen können, fügen wir zu einem Gesamtbild zusammen, aus dem die weiterführende Forschung schöpfen kann.“

Oft sind auch kleine Notizen von großer Bedeutung. Etwa wenn darin Beobachtungen über Erdbeben oder Überschwemmungen mit genauem Datum und Ort stehen. „Ein Forscher, der Wettererscheinungen im Mittelalter untersucht, kann über die Plattform rasch alle relevanten Einträge finden und sich im besten Fall auch ein digitales Bild der entsprechenden Handschriftenseite ansehen. Das ist besonders wichtig, wenn die Texte mit Bildern illustriert sind.“

Unser Ziel ist, alle Handschriften in Österreich in der Datenbank zu erfassen und so viele wie möglich in einer digitalen Kopie zugänglich zu machen.

Kurze Notizen zu entziffern, ist nur eine von vielen Herausforderungen, ergänzt Glaßner. Denn viele der Handschriften enthalten zahlreiche Abkürzungen zudem ist das Schriftbild anders als heute. „Oft ist nicht auf den ersten Blick  ersichtlich, um welchen Text es sich handelt, wer die Handschrift geschrieben hat und wer sie durch die Jahrhunderte besessen hat.“ Ob sie etwa dauerhaft im Kloster war oder den Besitzer wechselte. Auch gibt es meist kein Inhaltsverzeichnis, das die Orientierung in der Handschrift erleichtern würde. „Unsere Arbeit wird manchmal mit Detektivarbeit in Zusammenhang gebracht, weil man sehr genau schauen und vielen Spuren folgen muss. Erst dann kann man alle Beobachtungen zu einem widerspruchsfreien Gesamtbild verknüpfen. Erfahrung ist dabei besonders wichtig: Wer mehr kennt, sieht auch mehr.“

Forschung für weitere Forschung

Heute zählt das österreichische Handschriftenportal manuscripta.at zu den umfangreichsten und am besten strukturiertesten weltweit, erklärt Glaßner stolz. Um die Forschung an den historischen Werken noch weiter zu erleichtern, haben die Germanistin und ihr Team die jeweiligen Publikationen zu den einzelnen Handschriften verlinkt. Aktuell zählt das Portal mehr als 10.000 Veröffentlichungen, die sich auf Österreichs Handschriften beziehen. „Wir verstehen uns hier wirklich als Grundlagenforscher, die vor Ort, in unseren Bibliotheken, alle Details zu einer mittelalterlichen Handschrift analysieren und verfügbar machen. Mit Hilfe unserer Forschungsergebnisse kann man dann weitere Forschungsfragen stellen oder offene Fragen lösen.“

 

Das Webportal manuscripta.at bietet online Zugang zu digitalisierten und wissenschaftlich erschlossenen Handschriften des Mittelalters in Österreich. Derzeit finden sich dort rund 500 einzigartige Werke, auf die weltweit und kostenfrei aus dem Internet zugegriffen werden kann. Das Portal wird vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW in Kooperation mit mehreren Bibliotheken betreut.

manUScripta.at

Institut für Mittelalterforschung der ÖAW