10.09.2021 | Gedenk-Museen

Bewerbungsschreiben an Europa

Wie erinnert sich Osteuropa an seine Geschichte? Der aktuelle Rechtsruck in Polen und Ungarn verändert auch den Blick auf die Vergangenheit. Die ÖAW-Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonić analysiert in ihrer Habilitation postsozialistische Gedenkmuseen im Hinblick auf ihre Kommunikation mit Europa.

Das Haus des Terrors in Budapest erinnert an die Opfer von Faschismus und Kommunismus. Es wurde von einem Theatermacher entwickelt und ähnelt dem US-Holocaustmuseum. © Wikimedia Commons
Das Haus des Terrors in Budapest erinnert an die Opfer von Faschismus und Kommunismus. Es wurde von einem Theatermacher entwickelt und ähnelt dem US-Holocaustmuseum. © Wikimedia Commons

Wie stellen Museen der postsozialistischen EU-Mitgliedsländer den Zweiten Weltkrieg, Holocaust und sowjetische Verbrechen dar? Von 2013 bis 2021 hat die Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonić vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) den Umgang mit heiß umkämpfter Erinnerung untersucht. Im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen haben viele Museen ihre Ausstellungen überarbeitet, sie wollten ein Zeichen setzen, dass sie bereit sind für Europa. Sie passten sich inhaltlich und ästhetisch an internationale Trends an.

Aber bedeutet das automatisch, dass man kritisch mit der eigenen Geschichte umgeht? „Vieles hatte den Charakter von Lippenbekenntnissen“, analysiert Radonić in ihrer gerade erschienen Habilitation „Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen“: „Beim Erzählen von individuellen Geschichten kann man Lösungen finden, die an den schmerzhaftesten Fragen der Kollaboration vorbei gehen.“

Ein weiterer zentraler Punkt ihrer Publikation ist die Frage, wie sich der aktuelle autoritäre Turn in Polen und Ungarn in der Museumslandschaft niederschlägt. Der Fokus verschiebt sich von verfolgten Jüdinnen und Juden auf die Retter/innen.

Ähnliche Ästhetik von Museen

Was macht Gedenkmuseen im osteuropäischen Raum interessant?

Ljiljana Radonić: Ich bin bereits in meiner Doktorarbeit der Frage nachgegangen, ob die nicht aufgearbeitete Vergangenheit ein Grund war für die Kriege in Jugoslawien in den 1990er-Jahren. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich ein kroatisches Museum in Jasenovac und ein Holocaust-Museum in Ungarn von der Ästhetik her sehr ähnlich sehen, mit dunklen Räumen und dem Fokus auf individuelle Geschichten. Beide Museen wurden in der Phase der EU-Beitrittsverhandlungen eröffnet. Ich wollte wissen, welche Rolle spielten sie bei den Bemühungen der postsozialistischen Länder, in die EU zu gelangen.

Wie haben sich Museen damals verändert?

Radonić: Es gibt zwei Arten der Kommunikation mit Europa. Die einen versuchen, mit ihren ständigen Ausstellungen zu beweisen, dass ihr Land sich an internationale Standards hält im Umgang mit der Vergangenheit. Man rückt den Holocaust stärker ins Zentrum und inkludiert auch erstmals den Genozid an den Roma und Sinti. Die Institutionen bemühen sich zu zeigen, dass sie sich vom Geschichtsrevisionismus verabschiedet haben. Eine andere Gruppe von Museen fordert, dass „Europa“ das Leiden in der sozialistischen Ära anerkennt. In den drei baltischen Ländern geht es darum, zu zeigen, dass es 1944 keine Befreiung, sondern eine Besatzung durch die Sowjetunion gab.

Westliche Vorbilder

Änderte sich auch die Ästhetik der Museen?

Radonić: Obwohl es nach wie vor große Unterschiede gibt, wird deutlich, dass sich die Museen an westlichen Vorbildern abarbeiten, positiv wie negativ. Das Haus des Terrors in Budapest wurde von einem Theatermacher entwickelt und ähnelt dem US-Holocaustmuseum. Da wird dirigiert, was Zuschauer/innen empfinden sollen. Alle müssen im Aufzug die Geschichte von jemandem hören, der im Foltergefängnis das Blut wegwischen musste. An deutschen und österreichischen Gedenkorten würde man die Emotionen so nicht steuern. Aber es gibt in Budapest auch das Holocaust-Gedenkzentrum, wo eine nüchterne Ausstellung gezeigt wird, die kritisch die Rolle Ungarns im Holocaust beleuchtet. Und in individuellen Familiengeschichten kommen die Opfer selbst zu Wort.

Die einen versuchen, mit ihren Ausstellungen zu beweisen, dass ihr Land sich an internationale Standards hält. Eine andere Gruppe von Museen fordert, dass „Europa“ das Leiden in der sozialistischen Ära anerkennt."

Sind diese Neugestaltungen, die sich an internationalen Trends wie dem Erzählen von individuellen Opfergeschichten, als eine Art Bewerbungsschreiben an Europa zu lesen?

Radonić: Ich nenne es eine Anrufung Europas. Wobei manche Länder mehr zu beweisen haben als andere. Kroatien und die Slowakei waren nur als NS-Satellitenstaaten unabhängige Staaten. Nach 1990 hatten sie geschichtsrevisionistische Regierungen. Deshalb, so eine These in meinem Buch, ist es für diese Länder besonders wichtig, in Ausstellungen zu beweisen, dass man diese Phase hinter sich gelassen hat.

Wobei man aber auch sagen muss: Nur, weil man in der Ästhetik internationale Trends bediente, hieß das noch lange nicht, dass es eine schonungslose Aufarbeitung in Kroatien oder der Slowakei gab. Vieles hatte den Charakter von Lippenbekenntnissen. Gerade beim Erzählen von individuellen Geschichten kann man Lösungen finden, die an den schmerzhaftesten Fragen der Kollaboration vorbei gehen. In Kroatien führt der Fokus auf die individuellen Opfergeschichten dazu, dass man sehr wenig über die kroatischen Täter spricht.

Autoritärer Backlash

Aktuelle Beispiele sind Ungarn und Polen. Schlägt sich der Rechtsruck auch in Museen wieder?

Radonić:  Das ist ein weiterer Kernpunkt meines Buches: der autoritäre Backlash und der Geschichtsrevisionismus, der sich in der Museumslandschaft ablesen lässt. Bestehende Museen wie das Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig in Polen werden entsprechend der regierenden Partei PiS umgestaltet. Es wurde ein riesiges Foto in die Holocaust-Abteilung eingefügt, welches der polnischen Familie Ulma gewidmet ist, die Juden gerettet hat. Der Fokus verschiebt sich also von den verfolgten Jüdinnen und Juden auf die polnischen Retter/innen. Das ist ein Trend, den wir sowohl in Ungarn als auch in Polen beobachten können.

Bestehende Museen wie das Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig in Polen werden entsprechend der regierenden Partei PiS umgestaltet."

Werden auch neue Museen gebaut?

Radonić: Man möchte in Polen und Ungarn eine patriotische Museumslandschaft. Es soll eine Abkehr von der „Politik der Schande“ geben, wie das die polnische Politik einmal genannt hat. Im Warschauer Ghetto ist ein neues Museum geplant, das die polnischen Helden ins Zentrum stellt, die guten polnisch-jüdischen Beziehungen herausarbeitet. Es wird ein Kontrapunkt für das bereits bestehende Museum der Geschichte der polnischen Juden, das bereits auf dem Gelände des Ghettos existiert.

 

AUF EINEN BLICK

Ljiljana Radonić ist Gruppenleiterin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). 2020 habilitierte sie sich an der Universität Wien. 2018 erhielt sie einen Consolidator Grant des ERC, mit dem sie 50 Museen auf vier Kontinenten untersucht, die dem Zweiten Weltkrieg und Genoziden gewidmet sind.

Ihre Habilitation ist Open Access unter dem Titel  „Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid“ im Verlag DeGruyter erschienen und wurde vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert.