Wann und wie der Krieg in der Ukraine beendet werden könnte, darüber sind sich Expert/innen derzeit uneinig. Angesichts der Worte und Taten der russischen Führung, scheint ein Ende in weiter Ferne zu liegen. Wurden zu Beginn des Krieges von Russland noch teils rein propagandistische, teils territoriale und politisch-militärische Forderungen für einen Friedensschluss formuliert, etwa eine „Entnazifizierung der Ukraine“, die Unabhängigkeit der beiden Regionen Donezk und Luhansk oder der ukrainische Verzicht auf einen NATO-Beitritt, werden diese in der Zwischenzeit von den Umständen und massiven Opfern des brutalen Abnützungs- und Terrorkrieges überlagert.
Davon geht jedenfalls Wolfgang Mueller, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, aus. „Dieser Krieg ist zu einem Zerstörungs- und Vernichtungskrieg geworden, mit dem Ziel, die Bevölkerung massiv in Mitleidenschaft zu ziehen, sie zu traumatisieren und zu ermorden“, sagt der Russland-Experte.
Russland will militärische Entscheidung erzwingen
Somit sei es auch im fünften Monat des russischen Angriffs sehr schwer festzustellen, welche Kompromisse realistisch sind. Zwar habe der Präsident der Ukraine mehrfach darauf hingewiesen, dass sein Land bereit wäre, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten, wenn eine anderweitige verlässliche Sicherheitsgarantie für die Ukraine geschaffen werden könnte. Aber Putins Krieg richte sich gegen die Existenz einer unabhängigen souveränen Ukraine: „Zwischen Existenz und Nichtexistenz gibt es keinen Kompromiss“, stellt Mueller klar. Und: „Es ist kein Krieg um ein begrenztes Konfliktfeld, sondern um die Souveränität eines Staates von über 40 Millionen Menschen.“ Schließlich ist die Ukraine der größte in Europa insgesamt liegende Flächenstaat.
Vor diesem Hintergrund schätzt der Osteuropa-Historiker die Chancen für diplomatische Lösungen als derzeit sehr gering ein. Mueller: „Russland scheint nach wie vor entschlossen, militärisch eine Kapitulation der Ukraine herbeizuführen und solange zu kämpfen, wie seine eigenen Kräfte das erlauben, um eine Entscheidung zu erzwingen.“
Großrussische Ansprüche als Friedenshindernis
Ähnlich sieht das Kerstin Susanne Jobst. Sie ist ebenfalls Historikerin an der Universität Wien und war Mitglied der ehemaligen Kommission Südosteuropa-Türkei-Schwarzmeerregion der ÖAW. „Der großrussische Anspruch macht es ganz schwierig“, sagt Jobst. Dieser wurde spätestens mit der Annexion der Krim 2014 angedeutet. „Das war ein Menetekel – ein Zeichen an der Wand, das vom Westen nicht genügend zur Kenntnis genommen wurde“, so die Historikerin.
Für sie steht fest: „Das aktuelle Kriegsgeschehen zeigt den entschlossenen Willen Russlands, die gegen jedes Völkerrecht erhobenen Ansprüche durchzusetzen.“ Die Vorstellung eines großrussischen Gebildes könne man dabei nur historisch erklären. Hier spiele nicht nur die Zeit der Sowjetunion, sondern auch jene des Zarenreichs eine Rolle. „Die Einverleibung des nördlichen Schwarzmeerraumes wurde spätestens im 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen angedacht und formuliert – was dann in der Zeit Katharinas ‚der Großen‘, also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit der Aneignung des nördlichen Schwarzmeerufers gelang“, erklärt Jobst. Schließlich wurden im Russischen Zarenreich Teile der südwestlichen Rus‘, hauptsächlich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, als Kleinrussland bezeichnet.
Verteidigungsfall für die NATO
Doch was passiert, wenn Russland auch noch andere Gebiete für sich beansprucht, etwa Moldawien oder das Baltikum? „Solchen Wünschen kann man mit einer Politik des Ausgleichs und der Gespräche nicht entgegenwirken“, sagt Osteuropa-Expertin Jobst. Wenn die baltischen Länder angegriffen werden, würde das den Verteidigungsfall für die NATO bedeuten. Äußerungen des russischen Außenministers Sergei Lawrow, wonach er einen Dritten Weltkriegs androhte, schlagen jedenfalls in diese Kerbe. Doch: „Die Ausweitung des Krieges wäre für uns alle der Supergau“, ist Jobst überzeugt.
In der NATO-Osterweiterung 2004, also dem Beitritt u.a. der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, sieht Soziologe und ÖAW-Mitglied Max Haller einen Wendepunkt in Putins Außenpolitik. Schon damals herrschte berechtigte Angst, Russland könnte Besitzansprüche stellen, schließlich gab es Kriege in Tschetschenien, Transnistrien und Abchasien. Dazu Haller: „Natürlich gab es für die postkommunistischen Staaten gute Gründe, der NATO beizutreten, sie ist ein sicherer Schutz. Wenn ein Mitglied angegriffen wird, greifen alle zu seiner Verteidigung ein.“
Schwierige Rolle der UNO
Friedenspolitik? Für Haller ist diese durchaus noch möglich. Er könnte sich etwa vorstellen, dafür die Rolle der UNO zu stärken, schließlich wurde sie als Weltorganisation 1945 dazu geschaffen, um derartige Kriege zu verhindern. Aber: „Die UNO müsste militärisch stärker sein“, so Haller.
Historiker Mueller gibt allerdings zu bedenken, dass die Politik Putins weniger mit der Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO zu tun habe als mit der innenpolitischen Machtsicherung: Dafür sprechen der Tschetschenienkrieg, die Ausschaltung der inneren Opposition und die negative Reaktion auf die demokratischen „Farbrevolutionen“ im Umkreis Russlands. Die UNO hingegen sei immer nur so handlungsfähig , wie es die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates zulassen. Die entsprechenden Resolutionen würden im Sicherheitsrat von Russland mit einem Veto belegt. „Und damit ist die UNO nicht voll handlungsfähig“, so Mueller.
Doch wie könnte ein Frieden sonst gelingen? Haller plädiert dafür, Gesprächskanäle offen zu halten: „Biden muss mit Putin verhandeln. Aber auch die EU sollte mit Putin reden. Österreich hat einen exzellenten Kontakt, ein Teil der Ukraine gehörte einmal zur österreichischen Monarchie – und wir sind neutral. Russische und ukrainische Politiker könnten nach Wien kommen, um Gespräche zu führen. Das wäre eine einmalige Chance.“