04.05.2021 | Gedankenexperiment

Wie würde eine Welt ohne Impfstoffe aussehen?

Sie gehören zu den wichtigsten gesundheitspolitischen Interventionen der vergangenen hundert Jahre und sind bei der Bekämpfung von SARS-CoV-2 in vielen Teilen der Welt noch immer Mangelware: Impfstoffe. Was wir ihnen historisch zu verdanken haben und warum flächendeckende Impfungen essentiell sind, um eine Pandemie zu besiegen, erklären ÖAW-Expert/innen aus den Bereichen Medizingeschichte und Infektiologie.

Aufnahme einer Reihe von Impfstoff-Behältern
Ohne Impfstoff wäre die Coronapandemie kaum zu besiegen. © Shutterstock

Können Sie sich eine Welt ohne Impfstoffe vorstellen?
Der Ausbruch von SARS-CoV-2 hat uns monatelang vor Augen geführt, wie es sich anfühlt, einer Pandemie ohne entsprechendes Gegenmittel ausgeliefert zu sein. Aber was, wenn es auf der Welt gar keine Immunisierung gegen Infektionskrankheiten gäbe? Es ist ein Gedankenexperiment in eine andere Welt, eine Welt ohne Impfung, in der wir wahrscheinlich nur die Hälfte unseres Lebens leben könnten. Viele von uns würden schon im Kindesalter an vermeidbaren Infektionskrankheiten sterben.

Retter von Kinderleben

„Impfungen gehören zu den wirksamsten Maßnahmen, um das Überleben von Kindern zu sichern. Man geht davon aus, dass Impfungen mehr Kinderleben gerettet haben als jeder andere medizinische Eingriff“, sagt Medizinhistorikerin Daniela Angetter vom Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Durch Impfungen konnte in den vergangenen 30 Jahren die Kindersterblichkeit halbiert und die Lebenserwartung kontinuierlich erhöht werden. So lag das Durchschnittsalter Ende des 19. Jahrhunderts, als es noch keine durchgängigen Impfungen – und übrigens auch keine Antibiotikaforschung – gab, hierzulande bei vierzig Jahren.

Pocken, Poliomyelitis, Tetanus, Diphtherie und Masern – sie wurden im vorigen Jahrhundert als die fünf gefährlichsten Krankheiten bezeichnet – sind heute in unseren Breiten nahezu ausgerottet. „Ohne Vakzine und entsprechende Medikamente würden wir wahrscheinlich von Viren und Bakterien überrannt werden“, schätzt Angetter. Dass unser Immunsystem mittlerweile mit den meisten Viren relativ gut umgehen kann, ist jedenfalls den Impfungen geschuldet, so die ÖAW-Forscherin.

Beispiellose Erfolgsstory

Begonnen hat alles mit dem englischen Landarzt Edward Jenner, der Ende des 18. Jahrhunderts die erste Schutzimpfung gegen die Pocken, eine der schlimmsten Infektionskrankheiten aller Zeiten, verabreichte. Rund 170 Jahre später war es der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einer beispiellosen weltumspannenden Impfaktion gelungen, die Krankheit auszurotten. Diese flächendeckenden Impfungen haben gezeigt, was Vakzine bewirken können.

„Mit Impfprogrammen kann man deutlich belegen, wie bestimmte vermeidbare Erkrankungen in ihrer Inzidenz gesunken sind“, sagt Heinz Burgmann. Er ist Infektiologe und Professor für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Wien. „Anhand der Spanischen Grippe, bei der kein Vakzin zur Stelle war, hat man gesehen, welche Auswirkungen es hat, wenn eine Seuche ohne Impfstoff über die Menschheit herfällt.“

Gefahr der Impfmüdigkeit

Vor dem Ausbruch der aktuellen Covid-19-Pandemie waren Todesfälle durch klassische Seuchen wie Diphterie oder Masern eine extreme Rarität. Doch überall dort, wo es eine niedrige Impfquote gibt, etwa weil der Zugang zur Impfung in ärmeren Ländern nicht gegeben ist oder eine gewissen Impfmüdigkeit aufgetreten ist, tauchen Fälle von Polio, Diphtherie oder Masern wieder auf. Beispiel Masern: Die Infektionskrankheit war als Folge von Impfprogrammen lange Zeit aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden. Doch dann sank die Impfmotivation im Westen und Masern erlebten ein Comeback.

„Impfstoffe sind ein Opfer ihres eigenen Erfolges“, sagt Infektiologe Burgmann. Einer der Gründe, warum einem Teil der Bevölkerung nicht mehr bewusst ist, wie wichtig sie sind: Zur Immunisierung werden Impfstoffe gesunden Menschen verabreicht. Die paradoxe Folge: „Die Erfolge sind nicht unmittelbar zu bemerken, wenn jemand keine Infektionen bekommt“, so der Mediziner.

Dass die von Infektionskrankheiten ausgehenden Gefahren immer mehr in Vergessenheit geraten sind, ist auch auf deren erfolgreiche Behandlung durch Antibiotika zurückzuführen. „Das vorige Jahrhundert war das goldene Zeitalter der Antibiotika, eingeläutet mit der Entdeckung von Penicillin in den 1930er-Jahren“, sagt Burgmann. Und: „Die gesamte moderne Medizin basiert auf der Beherrschung von Infektionen – durch Impfungen und Antibiotika.“ Der Mediziner warnt indes vor einer anderen – einer schleichenden – Pandemie: der zunehmenden Antibiotikaresistenzen. Aktuell werde deshalb auch an Impfstoffen gegen multiresistente Bakterien geforscht.

Impfgegner/innen und Herdenimmunität

Die Angst vor der Spritze und ihrem Inhaltsstoff ist dabei so alt wie die Vakzination selbst. „Bereits um 1800 fürchteten Impfgegner, dass Kinder, die den von Jenner erfundenen Kuhpockenimpfstoff erhielten, kuhähnliche Züge entwickeln würden“, erzählt Medizinhistorikerin Angetter.

Aktuell wird viel von Herdenimmunitäten gesprochen, die man erreichen muss, um eine Pandemie zu besiegen. Dazu heißt es oft, dass die Geimpften auch die Impfgegner/innen schützen. Das stimmt, sagt Angetter. Aber: „Man muss auch bedenken, dass es viele Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen können, weil sie allergisch gegen einen Bestandteil des Stoffes sind, weil sie Vorerkrankungen haben oder weil sie ein Alter haben, für das es noch keinen Impfstoff gibt.“ Für Angetter ist es daher eine gesellschaftliche Verpflichtung, sich impfen zu lassen, sobald man die Chance dazu hat. „Jeder kann dazu beitragen, dass eine Krankheit ausgerottet wird.“

Ähnlich sieht das Burgmann. „So viele Impfstoffe haben wir gar nicht“, sagt er. „Für viele Erkrankungen stehen noch keine wirksamen Vakzine zur Verfügung, aber die, die bereits existieren, sollten wir nützen.“

 

AUF EINEN BLICK

Daniela Angetter ist Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) tätig. Zudem ist sie Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW.

Heinz Burgmann ist Infektiologe, Professor für Innere Medizin und Leiter der Klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin der Medizinischen Universität Wien. Er ist an der ÖAW einer der Expert/innen,  die zu unterschiedlichen Aspekten der COVID-19-Pandemie Auskunft geben können.