16.12.2022 | Christmas Lecture

Wie wir durch die vielen Krisen kommen

Was die krisenhafte Gegenwart mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt macht und wie wir als Gesellschaft widerstandsfähig bleiben, darüber spricht Medizinethikerin Alena Buyx im Interview. Am 20. Dezember war sie im Festsaal der ÖAW in Wien zur gemeinsam mit krone.tv veranstalteten Christmas Lecture 2022 zu Gast.

© ÖAW/Ludwig Schedl

Die Krisen scheinen sich derzeit zu stapeln. Was hält uns als Gesellschaft in Zeiten wie diesen zusammen – und was treibt uns auseinander? Diesen Fragen ging Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, bei der ersten ÖAW-Christmas Lecture am 20. Dezember 2022 im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) nach, die gemeinsam mit krone.tv veranstaltet wurde.

Im Interview spricht Buyx über die Ursachen für zunehmende Polarisierung und darüber, warum es wichtig ist, die Ängste und Verunsicherungen nicht zu negieren. „Als Gesellschaft sollten wir möglichst viel dafür tun, um im Gespräch zu bleiben“, sagt sie. Denn: „Gerade, weil wir so viele Krisen erleben, brauchen wir auf der großen gesellschaftlichen Bühne mehr Fokus auf das, was uns als Menschen verbindet. Wir müssen mehr um Zuversicht werben und auch um eine positive Vision ringen, wie wir als Menschen zusammenleben wollen.“

Frau Buyx, leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft?

Alena Buyx: Die Rede von der gespaltenen Gesellschaft setzt eine Spaltung voraus. Es klingt als wäre etwas in der Mitte gebrochen und impliziert, dass bestimmte Gruppen klar voneinander abgetrennt sind. Dieser Bruch wird durch wissenschaftliche Studien aber nicht bestätigt. Was wir stattdessen haben, ist eine belastete, eine herausgeforderte Gesellschaft. Wissenschaftlich lassen sich stärkere Polarisierungen zu bestimmten umkämpften Themen messen.

Es gibt gute Gründe, dass wir uns alle ärgern, aufregen und ängstigen. Das sollten wir nicht negieren und abstreiten.

Um diese Polarisierung zu verstehen und ihr zu begegnen, hilft es auch, nach den Ursachen zu forschen. Wo sehen Sie die Ursachen?

Buyx: Die Antwort ist vielschichtig. Es gibt individuelle und strukturelle Gründe. Auf der individuellen Ebene gab es während der Pandemie unterschiedliche Betroffenheiten, etwa durch Jobverlust, ökonomische Schäden oder durch Krankheits- und Todesfälle im eigenen Umfeld. Strukturell weiß man, dass Desinformation, Fake News und die Zuspitzung, die wir in unseren Aufmerksamkeitsökonomien erleben, die Menschen polarisieren können. Die Logik von Algorithmen in den sozialen Medien ist wissenschaftlich sehr gut beschrieben: Je aufgeregter und empörter eine Meldung, desto mehr wird sie geklickt. Aber: Ein Algorithmus ist kein Naturgesetz, sondern eine bewusste Entscheidung in der Programmierung.

Wie tief sind denn die Gräben seit der Pandemie geworden?

Buyx: Es gibt keine klar definierten Gräben. Unterschiedliche Positionen wurden während der Pandemie verschärft diskutiert, etwa Fragen zu geschlossenen oder offenen Schulen, die Impfplicht oder die Wirksamkeit von Maßnahmen. Es hat eine ganze Reihe solcher Streitfragen gegeben. Im Augenblick sehen wir, dass Polarisierungen für neue Themen übernommen werden.

Polarisierungen haben wenig konstruktives Potenzial, sie helfen uns gesellschaftlich nicht weiter.

Inwiefern?

Buyx: Untersuchungen zeigen, dass Fragen des Klimawandels jetzt auch polarisierter diskutiert werden als vor der Pandemie. Hier gibt es ähnliche Fragen, wie zum Beispiel: Wie viele Maßnahmen darf man den Menschen zumuten, um die Klimakrise einzudämmen? Wie stark darf man Freiheiten einschränken? Doch: Polarisierungen haben wenig konstruktives Potenzial, sie helfen uns gesellschaftlich nicht weiter. Im Gegenteil. Sie erschweren Lösungen. Deshalb ist es ganz wichtig, sie nicht noch zu verstärken, sondern möglichst viel dafür zu tun, um im Gespräch zu bleiben.

Die derzeitigen Krisen – die Pandemie, die Energiekrise, die hohe Inflation, die Klimakrise – sie alle haben das Potenzial, uns auseinander zu treiben. Wie bleibt man im Gespräch?

Buyx: Wir haben tiefe Erschütterungen erlebt. Angefangen bei der größten Gesundheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, die tief in unser aller Leben eingedrungen ist. Wir hatten als Gesellschaften keine Zeit, uns davon zu erholen. Stattdessen kam ein Krieg in Europa und mit ihm eine Energiekrise und Inflation. Und über allem schwebt die wirklich bedrohliche Klimakrise. Es gibt also gute Gründe, dass wir uns alle ärgern, aufregen und ängstigen. Das sollten wir nicht negieren und abstreiten.
Aber gerade, weil wir so viele Krisen erleben, brauchen wir auf der großen gesellschaftlichen Bühne mehr Fokus auf das, was uns als Menschen verbindet. Wir müssen mehr um Zuversicht werben und auch um eine positive Vision ringen, wie wir als Menschen zusammenleben wollen. Der Deutsche Ethikrat hat viele technische Antworten auf Fragen der Resilienz in der Krise geschrieben. In einem 280 Seiten umfassenden Gutachten beschäftigen wir und unter anderem damit, wie man Resilienz in bestimmten gesellschaftlichen Sektoren erhöhen kann.

In vielen unterschiedlichen Kontexten haben Menschen kreativ, pragmatisch, belastbar und lösungsorientiert auf die Krisen reagiert.

Der Gegenbegriff zur Rede von der gespaltenen Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die zusammenhält. In welchen Bereichen wächst die Gesellschaft sogar zusammen?

Buyx: Vieles liegt im Argen. Aber: Es sind in diesen belastenden Situationen auch neue zusätzliche Dinge entstanden, die wir vielleicht gar nicht so richtig gespürt haben. Einen großen Innovationsschub haben wir etwa in der Verbindung von Leben und Arbeiten erlebt, aber auch, was gegenseitige Unterstützung und prosoziale Initiativen anbelangt. In vielen unterschiedlichen Kontexten haben Menschen kreativ, pragmatisch, belastbar und lösungsorientiert auf die Krisen reagiert. Das müssen wir uns stärker vergegenwärtigen – auch auf institutioneller, politischer, medialer Ebene: Wir brauchen diese stärkenden und verbindenden Geschichten als Gegengewicht zu all dem Schwierigen und Herausfordernden, was wir alltäglich erleben und lesen und sehen. 

Ein Beispiel, bitte?

Buyx: Ich kann ein Beispiel für Deutschland nennen: Um sich bei den jungen Menschen für ihre Solidarität in der Pandemie zu bedanken, wurde im Raum Stuttgart ein großes und kreatives Programm mit ganz vielen Angeboten für Kinder und Jugendliche aufgesetzt. Stiftungen, Unternehmen und auch die Lokalpolitik haben das und organisiert. Stichwort Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung: Es ist wichtig zu sehen, dass wir etwas füreinander tun – allen voran für die junge Generation, die während der Pandemie vieles entbehren musste, in vielen Bereichen zu wenig gehört wird und von den Krisen stark betroffen ist – und sein wird.

 

AUF EINEN BLICK

Alena Buyx ist Medizinethikerin und Hochschullehrerin Alena Buyx ist seit 2018 Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München. Seit 2020 sitzt sie dem Deutschen Ethikrat vor.