Warum 1945 bis heute nachwirkt
05.05.2025
Das Jahr 1945 markiert nicht nur das Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern auch den Beginn eines neuen österreichischen Selbstverständnisses – politisch, gesellschaftlich und kulturell. Im Interview erklärt die Zeithistorikerin Barbara Stelzl-Marx, warum diese Zäsur bis heute nachwirkt und wie regionale Erinnerung, persönliche Erzählungen und neue Forschung dazu beitragen, Geschichte lebendig zu halten.
Im Rahmen der Veranstaltung „45-55-95. Wendepunkte der österreichischen Geschichte“, zu der die Österreichische Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit Der Standard am 6. Mai einlädt, wird Barbara Stelzl-Marx in einem Vortrag über das Kriegsende und den Neubeginn 1945 sprechen.
Frau Stelzl-Marx, warum ist das Jahr 1945 auch heute – 80 Jahre später – noch so bedeutsam für die österreichische Gesellschaft?
Barbara Stelzl-Marx: Dieses Jahr ist ein besonderes Gedenkjahr, in dem wir gleich mehrere markante historische Ereignisse ins Bewusstsein rufen: 80 Jahre Kriegsende, 70 Jahre Staatsvertrag, 30 Jahre EU-Beitritt. Vor allem aber war 1945 eine tiefgreifende Zäsur in der österreichischen Zeitgeschichte – mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Geburtsstunde der Zweiten Republik. Wir haben heute noch die Möglichkeit, mit Zeitzeug:innen zu sprechen und ihre ganz persönlichen Erinnerungen zu hören. Das ist besonders wertvoll, denn obwohl inzwischen acht Jahrzehnte vergangen sind, sind die Folgen dieser Erfahrungen – des Krieges, seines Endes und der Besatzungszeit – nach wie vor spürbar.
Das Wendejahr 1945
Woran lässt sich erkennen, dass diese Vergangenheit bis heute nachwirkt?
Stelzl-Marx: Die Spuren des totalitären Regimes und des Krieges sind tief in die Biografien der Menschen eingeschrieben, aber auch in der Landschaft und in der Bausubstanz sichtbar. Diese Vergangenheit wirkt nach – nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern auch im kollektiven Gedächtnis. Und zugleich ergibt sich daraus ein Auftrag: Österreich hat eine Geschichte zu erzählen, mit all ihren Brüchen und Wendepunkten.
Diese Vergangenheit wirkt nach – nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern auch im kollektiven Gedächtnis.
Wie lässt sich die Komplexität des Jahres 1945 – zwischen Befreiung, Gewalt und Neuanfang – verständlich machen?
Stelzl-Marx: Ende März 1945 überschritten sowjetische Truppen die damalige Reichsgrenze zwischen Ungarn und Österreich – der Beginn von Befreiung und zugleich Besatzung. Es folgte eine rund 41-tägige Phase „verdichteter Gewalt“: Kampfhandlungen brachten Zerstörung nach Ostösterreich, während das NS-Regime in seinen letzten Tagen noch massive Gewalttaten verübte, wie Todesmärsche, Hinrichtungen und Morde an Widerstandskämpfer:innen. Das Kriegsende war kein punktuelles Ereignis, sondern ein regional und zeitlich unterschiedlich verlaufender Prozess: Wien wurde am 13. April befreit, Graz erst in der Nacht auf den 9. Mai. Die anschließende Besatzungszeit stellte viele Menschen vor große Herausforderungen: Hunger, Krankheiten und der Eingriff der Besatzungsmächte ins Privatleben bestimmten den Alltag. Karl Renner sprach von einer „Katastrophe des Hungers und der Seuchen“.
Die 75 Tage sowjetischer Besatzung in Graz
In Ihrem neuen Buch „Roter Stern über Graz“ widmen Sie sich der sowjetischen Besatzung in Graz. Welche Rolle spielt regionale Erinnerung im kollektiven Gedächtnis?
Stelzl-Marx: Das Buch ist eine Mikrostudie über einen sehr überschaubaren Zeitraum – 75 Tage sowjetischer Besatzung in Graz, bevor die britischen Truppen kamen. Ich wollte diese kurze, aber sehr intensive Phase Tag für Tag rekonstruieren: Was geschah in der Stadt? Wie reagierte die Zivilbevölkerung? Welche Überlebensstrategien entwickelten sich? Wie lief die Entnazifizierung? Welche Rolle spielten Gewalt, Plünderungen, sexuelle Übergriffe, Beziehungen zwischen Soldaten und einheimischen Frauen? Gerade weil es so lokal und konkret ist, war das Interesse besonders groß – auch bei der Buchpräsentation. Ich denke, regionale Geschichte ist besonders wirksam, weil sie den Menschen unmittelbarer erscheint: Es geht um Ereignisse „vor der eigenen Haustür“, und das berührt oft stärker als abstrakte nationale Narrative.
Es geht um Ereignisse „vor der eigenen Haustür“.
Welche politischen Weichen wurden am 8. Mai 1945 für ein unabhängiges Österreich gestellt?
Stelzl-Marx: Mit dem am 8. Mai 1945 von der provisorischen Staatsregierung Renner beschlossenen Verbotsgesetz wurde das NS-Regime offiziell für beendet erklärt. Anders als 1918 war nun klar: Österreich musste einen eigenständigen Weg einschlagen. Die Zweite Republik sollte ein unabhängiger, lebensfähiger Staat sein – ein Ziel, das mit großem politischen Willen verfolgt wurde. Die nationale Identität wuchs allmählich und erhielt mit dem Staatsvertrag 1955, dem Ende der Besatzung und der Neutralität wichtige Grundlagen.
Gibt es 80 Jahre später noch „unsichtbare“ historische Spuren, etwa in Form von bislang unbearbeiteten Dokumenten?
Stelzl-Marx: Ja, absolut. Immer wieder stoßen wir auf Forschungslücken oder neue Quellen. Ein Beispiel: Gemeinsam mit dem Innenministerium, dem Ludwig Boltzmann Institut und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes haben wir am Institut für Geschichte der Universität Graz das Projekt „Die österreichische Polizei im Nationalsozialismus“ durchgeführt. Dabei konnten wir erstmals auf zentrale Archivbestände des Ministeriums und der Landespolizeidirektionen zugreifen. Eine Publikation und eine Wanderausstellung sind daraus entstanden – ein erster wichtiger Schritt. Gerade bei Themen wie der Rolle der Exekutive im NS-Regime oder der Entnazifizierung gibt es noch viel aufzuarbeiten.
Ehemalige NS-Gebäude heute
Welche Bedeutung haben historisch belastete Gebäude für die Erinnerungskultur?
Stelzl-Marx: Aktuell führen wir ein Projekt für die Bundesimmobiliengesellschaft durch, bei dem wir untersuchen, welche Rolle bestimmte Gebäude während der NS-Zeit gespielt haben – waren sie Gestapo-Zentralen, Gerichte, Unterkünfte für Zwangsarbeiter:innen? Viele dieser Geschichten sind auf den ersten Blick unsichtbar. Wir Historiker:innen arbeiten da wie mit einem Geigerzähler – wir halten ihn an die Gebäude, spüren verborgene Geschichten auf und überlegen, wie wir sie sichtbar machen können.
Viele dieser Geschichten sind auf den ersten Blick unsichtbar.
Denn: Vieles erkennt man tatsächlich erst auf den zweiten Blick – wenn man beginnt, gezielt nachzuforschen. Dann treten diese „subkutanen Spuren“ zutage, und die Gebäude erzählen plötzlich Geschichten, die lange verborgen waren. Ein Beispiel ist etwa auch unser Projekt zum Lebensborn-Heim Wienerwald in Feichtenbach. Das war lange ein weitgehend verdrängtes Kapitel. Aber durch Aktenfunde, Interviews mit dort geborenen Menschen und öffentliche Diskussionen wird dieses Thema nun sichtbarer – sowohl in der Forschung als auch im öffentlichen Bewusstsein.
Apropos Zeitzeug:innen. Welche Rolle spielt der Austausch zwischen historischen Fakten und persönlichen Erinnerungen für unser Geschichtsverständnis?
Stelzl-Marx: Persönliche Erinnerungen machen Geschichte greifbarer, unmittelbarer, lebendiger. In den Familien sind es oft nicht die nüchternen Fakten, die weitergegeben werden, sondern konkrete Lebensgeschichten. Und gerade dadurch können wir besonders junge Menschen für eine Zeit interessieren, die ihnen heute schon sehr fern scheint. In St. Pölten zeigen wir aktuell die Ausstellung „Kinder des Krieges – Aufwachsen zwischen 1938 und 1955“, die sich diesen historischen Zäsuren aus der Perspektive von Kindern widmet. Dabei haben wir bewusst mit Zeitzeug:inneninterviews gearbeitet – eine sehr direkte Form der Geschichtsvermittlung, die noch möglich ist, solange wir diese Stimmen hören können.
Auf einen Blick
Barbara Stelzl-Marx ist Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz, Wien und Raabs. Sie ist zudem Vizepräsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission und Lektorin an der Diplomatischen Akademie Wien, Mitglied im Forschungs-, Wissenschafts-, Innovations- und Technologieentwicklungsrat der Republik Österreich sowie u. a. in der Jury des Simon-Wiesenthal-Preises des Österreichischen Parlaments.
Am 6. Mai 2025 lädt die Österreichische Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit Der Standard zur Veranstaltung „45-55-95. Wendepunkte der österreichischen Geschichte“, bei der Barbara Stelzl-Marx in einem Vortrag über das Kriegsende und den Neubeginn 1945 sprechen wird.