18.08.2022 | Ukraine Emergency Call

Tschernobyl: Forschen im radioaktiven Sperrgebiet der Ukraine

Die Strahlenphysikerin Nataliia Zarubina hat vor ihrer Flucht vor dem Krieg in der Ukraine Radioaktivität an Pilzen untersucht. Mithilfe des Ukraine Emergency Calls der Österreichischen Akademie der Wissenschaften konnte sie für einen Forschungsaufenthalt nach Österreich kommen.

Bild eines radioaktiven Warnzeichens vor einer Waldlandschaft.
Rund um das 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine liegt ein 30 Kilometer breites, radioaktiv verseuchtes Sperrgebiet. © Unsplash

Wie wirkt sich ein Reaktorunfall auf ein Ökosystem aus? Bei der Explosion von Reaktor 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986 wurden große Mengen radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre freigesetzt, allen voran das Radionuklid Cäsium 137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren. Jahrelang forschte die ukrainische Strahlenphysikerin Nataliia Zarubina vom Institut für Kernforschung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine (NAS) dazu im Sperrgebiet des Atomkraftwerks Tschernobyl.

Sie überprüfte den Cäsiumgehalt von Pilzen und anderen Pflanzen und sammelte über 33 Jahre lang Daten, immer aus dem selben Waldgebiet. Dann kam der Krieg – und hat auch das Leben der Strahlenforscherin dramatisch verändert. Dank der Emergency-Ausschreibung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) konnte Zarubina nach Wien flüchten. Über ihre Forschungsergebnisse,darüber, wie man in einem der am stärksten radioaktiv verseuchten Gebiete der Welt forscht und wie der Krieg alles veränderte, spricht sie im Interview.

Tschernobyls radioaktiv verseuchte Wälder

Frau Zarubina, Sie untersuchen die radioaktive Verseuchung von Waldökosystemen im Sperrgebiet des Atomkraftwerks Tschernobyl. Was genau forschen Sie?

Nataliia Zarubina: Seit vielen Jahren erforsche ich die Waldkontamination von Cäsium 137 in verschiedenen Pflanzen und Erdschichten, allen voran der Waldkiefer, der häufigsten Baumart im Gebiet der Sperrzone von Tschernobyl. Zudem untersuche ich die radioaktive Kontamination von Moos sowie von essbaren Pilzen verschiedener Arten.

Von alledem lässt sich die größte Konzentration von Cäsium 137 in Pilzen nachweisen. Der Gehalt dieses Radionuklids kann sich jedoch bei verschiedenen Pilzarten, die nebeneinander gesammelt werden, um das 10-fache unterscheiden.

Der Gehalt an Cäsium 137 in Pilzen unterliegt einer saisonalen Dynamik."

Inwiefern?

Zarubina: Ich konnte herausfinden, dass der Gehalt an Cäsium 137 in ein und derselben Pilzart über ein Jahr hinweg kein konstanter Wert ist, sondern von der Jahreszeit und Wachstumsphase der Pilze abhängt. Der maximale Gehalt an Radiocäsium in Pilzen wird im Gebiet der ukrainischen Polissia – einer Region im südlichen Teil des Einzugsgebietes des Flusses Prypjat – im Oktober beobachtet. Es gibt also eine saisonale Dynamik. Bisweilen verzehnfacht sich die Kontamination von Bäumen oder Pilzen – aber zu unterschiedlichen Zeiten.

Verstrahlung über 300 Jahre

36 Jahre sind seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl vergangen. Wie gefährlich ist die Strahlung noch für das Ökosystem?

Zarubina: Cäsium 137 ist eines der gefährlichsten und langlebigsten Radionuklide, die durch Atomwaffentests und Unfälle in nuklearphysikalischen Einrichtungen in die Umwelt freigesetzt werden. Die Halbwertszeit von Cäsium 137 beträgt etwas mehr als 30 Jahre (30,2 Jahre). Das bedeutet: die Hälfte der Gesamtmenge dieses Radionuklids zerfällt in 30 Jahren. Es wird davon ausgegangen, dass das Gebiet vollständig von jeglichem Radionuklid befreit ist, wenn zehn Halbwertszeiten verstrichen sind. Das heißt: es wird 300 Jahre dauern, um das Territorium vollständig von Cäsium 137 zu reinigen. Im Gegensatz zu Ackerland bleibt Cäsium in Wäldern viel länger im Umlauf.

Warum?

Zarubina: Das liegt an der biotischen Komponente der Waldböden, die dieses Radionuklid in erheblichen Mengen zurückhält. Bei landwirtschaftlichen Flächen führt das wiederholte Umpflügen des Bodens zu einer gleichmäßigen Verteilung von Radionukliden in seiner Schicht und einer Störung der biotischen Beziehungen darin. Dies wiederum hat eine schnellere Reinigung des Bodens von Radionukliden zur Folge. Außerdem wird mit der Ernte ein Teil des Radionuklids aus dem Boden entfernt.

Krieg in der Ukraine

Nach dem Unfall wurde ein Gebiet von 2.600 Quadratkilometern zur Sperrzone. Wie forscht man in einem der am stärksten radioaktiv verseuchten Gebiete der Welt?

Zarubina: Es steht außer Frage, dass das Gebiet der Sperrzone von Tschernobyl stark verseucht ist. Wer sich dort bewegt, muss gut auf sich aufpassen. In den Anfangsjahren waren in einigen Bereichen Schutzkleidung und -schuhe für die Arbeit erforderlich. Jetzt haben alle Forscher*innen individuelle Dosimeter, die die Strahlenwerte messen, bei sich.

In stark verstrahlten Gebieten verbringe ich nur die für meine Forschung notwendige Mindestzeit. In meinem Fall ist es die Auswahl von Proben verschiedener Objekte aus dem Waldökosystem. Alle anderen Arbeiten werden in speziell dafür eingerichteten Labors durchgeführt.

Der Krieg hat meine Forschung komplett zunichte gemacht."

Wie hat der Krieg Ihre Forschung verändert?

Zarubina: Der Krieg hat meine langjährige Forschung auf dem Gebiet der Sperrzone von Tschernobyl komplett zunichte gemacht. Voraussetzung für Studien zur Umverteilung von Radionukliden im Wald ist ein ungestörter Boden, ein Boden, der nach dem Unfall von 1986 nicht mehr aufgewühlt wurde. Die Gebiete, in denen ich meine Forschungen durchführte, erfüllten diese Bedingungen vollständig. Seit dem Krieg sind die Bedingungen nicht mehr die gleichen. Die russischen Truppen haben den Boden auf dem Territorium umgegraben. All dies macht die Durchführung meiner weiteren Forschung unrichtig und fehlerhaft.

Aber: Meine langjährige Forschung und die Schlussfolgerungen, an denen ich derzeit arbeite, lassen sich auch für andere Bereiche nutzen. Das heißt, die Schlussfolgerungen aus meiner Forschung können für andere Wälder angepasst werden, indem nur minimale Stichproben durchgeführt werden, wodurch die Kosten für Arbeitsstunden und Forschungszeit reduziert werden.

 

AUF EINEN BLICK

Nataliia Zarubina ist Strahlenphysikerin am Institut für Kernforschung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine (NAS). Mithilfe des Ukraine Emergency Calls der ÖAW konnte sie nach Ausbruch des Ukrainekrieges nach Österreich kommen und arbeitet seither mit dem Geologen Christian Köberl, ÖAW-Mitglied und ehemaliger Direktor des Naturhistorischen Museums Wien, zusammen.