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Balkanforschung

Serbien: Der Hintergrund der Proteste

Warum die Protestbewegung, die inzwischen auch jenseits der Grenzen Serbiens aktiv ist, für Serbiens Präsident Aleksandar Vučić gefährlich ist und welche Rolle Europa in der politischen Krise spielt, erklärt Osteuropa-Experte und ÖAW-Mitglied Oliver Jens Schmitt im Interview.

08.04.2025
Studierende protestieren in Serbien seit Monaten gegen Korruption und den Machtapparat von Aleksandar Vučić.
© Adobe Stock (KI-generiert)

„Eure Korruption tötet“ steht auf den Transparenten der Demonstranten. Seit am 1. November 2024 beim Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad 15 Menschen ums Leben kamen, befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Der tragische Vorfall wurde zum Symbol für die korrupte Regierung von Präsident Aleksandar Vučić und löste die größte Protestwelle der letzten Jahre in Serbien aus. Inzwischen haben die Demonstrationen auch andere Länder erfasst. Vor allem junge Menschen machen gegenwärtig in unterschiedlichen Städten Europas, von Straßburg bis Wien, lautstark und öffentlich auf ihre demokratischen Anliegen aufmerksam. 

Im Interview spricht Osteuropa-Historiker und ÖAW-Mitglied Oliver Jens Schmitt über die Studentenproteste, die von den Institutionen Aufklärung im Fall Novi Sad fordern, den autoritären Führungsstil Vučićs und die problematische Rolle der EU.

Junge Menschen leiden besonders

Mehrere Monate ist es her, dass am Bahnhof in Novi Sad das Vordach einstürzte und 15 Menschen unter den Betonmassen starben. Der tragische Vorfall hat zu Massenprotesten in Serbien geführt. Wie unterscheiden sich die aktuellen Proteste von früheren Demonstrationen im Land?

Oliver Jens Schmitt: In der Vergangenheit konnte die serbische Regierung jegliche Rebellion durch Konzessionen, Einschüchterungen, Drohungen und vor allem enormen Druck auf die Führer der jeweiligen Kundgebungen unbeschädigt zurückdrängen. Die jetzigen Proteste sind anders: Sie vereinigen verschiedene Gesellschaftsgruppen, allen voran die Studierenden. Und: Diese Bewegung hat keinerlei Anführer:innen, die vom Regime angegriffen oder diffamiert werden könnten. Was für die Regierung besonders gefährlich ist: Die Proteste sind nicht auf große Städte wie Belgrad oder Novi Sad beschränkt, sondern breiten sich landesweit aus.

In Serbien bekommt kaum jemand eine gute Stelle, wenn er nicht in irgendeiner Weise dem politischen System zugeneigt ist.

Warum sind gerade Studierende die treibende Kraft hinter den Protesten?

Schmitt: Junge Menschen leiden besonders unter der Situation. Das Land ist unter völliger Kontrolle der Regierungspartei. Es gibt keine Lebensperspektive jenseits des Machtapparats von Aleksandar Vučić. In Serbien bekommt kaum jemand eine gute Stelle, wenn er nicht in irgendeiner Weise dem politischen System zugeneigt ist. Diese Abhängigkeiten sind sowohl dysfunktional als auch korrupt. Studierende sehen das kritisch und fühlen sich eingesperrt. Viele wandern sogar aus. Doch diejenigen, die auf die Straße gehen, setzen sich für ein besseres Leben im eigenen Land ein. Der schreckliche Unfall ist ein Sinnbild für all das, was in diesem Land nicht funktioniert.

Keine Hilfe vom Westen

Korruption, Wahlbetrug, Grundrechtsverletzungen und der Einsatz von Spionagesoftware gegen Journalist:innen und Aktivist:innen – wie konnte es soweit kommen?

Schmitt: Der Westen hat dieses System lange unterstützt. Vučić wäre nicht an der Macht, wenn er nicht von der früheren deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und jetzt auch von Olaf Scholz als Stabilitätsanker gestützt worden wäre. Auch der Lithium-Pakt, den Serbien mit der EU beschlossen hat, stützt den Präsidenten. Doch Vučić, der frühere Propagandaminister von Slobodan Milošević, ist ein Hassredner, der nie von seinem nationalistischen Kurs abgekommen ist. Dass die Spionagesoftware aus westlichen Staaten, darunter auch die Schweiz, kommt, ist ein weiterer Skandal. Die Demonstrierenden, die jetzt auf die Straße gehen, genießen nicht die geringste Unterstützung aus dem Westen. Und das ist schändlich.

Der Westen hat dieses System lange unterstützt.

Der Rücktritt des Premierministers Miloš Vučević markiert den vorläufigen Höhepunkt der politischen Krise. Hat das in irgendeiner Weise die Protestierenden besänftigt?

Schmitt: Nein, überhaupt nicht. Dieser Rücktritt zeigt, welchen Druck die Protestierenden entfalten konnten. Das ist ein großer Erfolg. Vučić hat gehofft, dass sich die Demonstrationen über Neujahr totlaufen würden. Und von gewissen Teilen der Bevölkerung, vor allem bei älteren Menschen, die sich vor Veränderungen fürchten, wird er noch mitgetragen. Vučić hat auch die orthodoxe Kirche aktiviert, die selbst sehr nationalistisch auftritt und auf der Linie des Regimes ist. Vučić hat ein System aufgebaut, das tief in Serbien verankert ist.

Vučić noch nie so unter Druck

Warum grenzt sich die Bewegung denn so bewusst von der politischen Opposition ab?

Schmitt: Die Demonstrierenden halten sich von der parteipolitischen Opposition fern, die sie als unglaubwürdig ansehen, und sind stolz auf ihre dezentrale Organisationsform. Das schützt sie sicher auch vor Druck und medialen Angriffen der regierungskontrollierten Medien. Doch Serbien ist eine repräsentative Demokratie, und politische Veränderungen erfolgen über Wahlen. Die Protestbewegung hat keine Partei, die ihre Interessen vertreten könnte, und besteht aus verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen. Sobald sie ihre Ablehnung gegen das Regime in konkrete politische Forderungen umwandeln muss, wird es deutlich schwieriger.

Es stellt sich die Frage, was die EU denn in Serbien sehen will – außer einem Rohstofflieferanten, der von einem autoritären Herrscher ruhiggestellt ist.

Sie haben die Rolle der EU angesprochen. Wo steht Russland in diesem Konflikt?

Schmitt: Russland unterstützt Vučić, aber er erhält auch Unterstützung von anderen ausländischen Akteuren, einschließlich der EU und den USA. Für die Protestierenden ist das eine schwierige Situation, da sie weitgehend auf sich allein gestellt sind. Die EU, die geografisch und politisch näher ist, zeigt kaum Interesse an der politischen Lage. Es stellt sich die Frage, was die EU denn in Serbien sehen will – außer einem Rohstofflieferanten, der von einem autoritären Herrscher ruhiggestellt ist. Das Fehlen einer klaren Strategie und Unterstützung ist enttäuschend und überdies auch zynisch und kurzsichtig.

Welche Auswirkungen könnten die Proteste auf die serbische Gesellschaft und die Demokratie haben?

Schmitt: Es ist schwer abzuschätzen. Diese Bewegung ist die größte ihrer Art, aber sie ist auch dezentralisiert und schlecht organisiert. Das könnte ihre Stärke und gleichzeitig ihre Schwäche sein. Trotz allem ist Vučić noch nie so unter Druck gestanden wie jetzt. Die Unruhe in seiner Umgebung wächst, da viele aus dem Sicherheitsapparat die Entwicklung genau beobachten. Wenn die Kräfteverhältnisse kippen, könnte dies für seine Unterstützer gefährlich werden. Aber noch sind wir nicht an diesem Punkt.

 

Oliver Jens Schmitt ist Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien und wissenschaftlicher Direktor des Forschungsbereichs Balkanforschung am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er ist Mitglied der ÖAW und war bis 2022 Präsident der philosophisch-historischen Klasse der Akademie. Aktuell ist Schmitt einer der Leiter des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Exzellenzclusters „Eurasian Transformations“.

 

© ÖAW/Klaus Pichler