16.12.2021 | Sozialanthropologie

Seit 10 Jahren die großen Fragen der Menschheit im Blick

Das Institut für Sozialanthropologie der ÖAW feiert seinen zehnten Geburtstag. Andre Gingrich, Gründungsdirektor des Instituts und einer der renommiertesten Sozialanthropologen des Landes, über die weit zurück reichende Vorgeschichte und die aktuell brennenden Fragen des Fachs.

Andre Gingrich und seine Kolleg/innen forschen mit sozialanthropologischer Kernkompetenz zu grundlegenden Menschheitsfragen. Nun wird das ÖAW-Institut zehn Jahre jung. © Klaus Pichler/ÖAW

Vor zehn Jahren wurde das Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gegründet. Heute ist die das Fachinstitut global vernetzt und von überregionaler Bedeutung und Strahlkraft. Andre Gingrich, Gründungsdirektor des Instituts, Sozialanthropologe und ÖAW-Mitglied, spricht im Interview über die Anfänge des Fachs, die zehnjährige Erfolgsgeschichte des Instituts und die künftigen Herausforderungen der Sozialanthropologie.

Herr Gingrich, zehn Jahre Institut für Sozialanthropologie: Was bedeutet das für Sie?

Andre Gingrich: Das Institut für Sozialanthropologie der ÖAW strahlt heute weit über den deutschsprachigen Raum hinaus und ist zu einem Fachinstitut von überregionaler Bedeutung geworden. Das ist eine Erfolgsgeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie in Österreich, unter Einbindung von vielen jungen internationalen Wissenschafter/innen, für welche die Einbettung ihrer Drittmittelprojekte in dieses stabile Team eine attraktive Option darstellt. Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren hätte das kaum jemand für dieses relativ kleine Fach zu hoffen gewagt.

Als Gründungsdirektor ist die Entstehungsgeschichte des Instituts eng mit Ihrer Person verbunden. Worauf konnten Sie aufbauen?

Gingrich: Ich durfte die frühere Kommission für Sozialanthropologie als eine bereits sehr gut funktionierende Akademie-Einrichtung übernehmen. Der Ethnologe Walter Dostal hat in Zusammenarbeit mit dem Tibetologen und Indologen Ernst Steinkellner zwei der heute noch gültigen drei großen Regionalschwerpunkte des Instituts etabliert: zum einen Südwest-Arabien, also den Jemen und Teile Saudi-Arabiens, und zum anderen Tibet und die Himalaya-Region.

Dostals Lehrer war Robert (von) Heine-Geldern, ein Großneffe des berühmten Dichters Heinrich Heine. Dieser hatte nach seiner Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil nach 1945 an der Akademie bereits Südostasien und seine maritimen Nachbarregionen als den dritten regionalen Schwerpunkt vorbereitet. Ich konnte also auf sehr guten Vorarbeiten und Expertisen aufbauen, als ich die Kommission für Sozialanthropologie 2003 übernehmen und mithilfe meines Wittgenstein Preises schrittweise zum Institut umwandeln durfte. Konsens und Konflikt in den erwähnten drei Großregionen Asiens standen dabei inhaltlich im Mittelpunkt, methodisch wurde die Ethnographie ergänzt um den systematischen Vergleich und die historische Analyse.

Die Anfänge der Sozialanthropologie an der ÖAW reichen zurück bis zur Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wie sieht die Vorgeschichte aus?

Gingrich: Die Vorgeschichte beginnt schon mit dem Gründungspräsidenten der Kaiserlichen Akademie, dem Nahost-Fachmann Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall. Die Anfänge liegen dann auch bei Rudolf Pöch, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Österreich und in Mitteleuropa einer der Gründungsväter von Ethnographie und Anthropologie war. Mit seinen – durchaus problematischen – Erhebungen in Australien, in Südafrika und vor allem während des Ersten Weltkriegs in Kriegsgefangenenlagern leistete er institutionelle Vorarbeiten, die dann über seinen Nachlass und seine Witwe auch zur Einrichtung der Pöch-Kommission an der Akademie führten. Pöchs Verdienste lagen in der systematischen Dokumentation und anfangs auch in der positiven Beachtung des Wechselspiels zwischen biologischen und kulturellen Faktoren menschlicher Existenz.

Sie haben heuer gemeinsam mit Peter Rohrbacher eine mehrbändige Publikation zur Rolle der Wiener „Völkerkunde“ zur NS-Zeit im Verlag der ÖAW herausgebracht. Können Sie kurz beschreiben, wie die Geschichte des Fachs an der Akademie um die Mitte des 20. Jahrhunderts weiterging?

Gingrich: Hier ist die sogenannte Wiener Schule der Kulturkreislehre zu nennen, die vor allem von den Patres Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers als geisteswissenschaftlicher Gegenentwurf zu den zunehmend biologistisch orientierten Ansätzen entwickelt wurde. Die Völkerkunde, wie das Fach damals hieß, wurde so in der Zwischenkriegszeit zu einer geradezu führenden, theologisch geprägten Kultur- und Geisteswissenschaft und konnte diese Position über Universität und Akademie als privilegierte Orte der mitteleuropäischen Wissenschaftslandschaft festigen. Systematische Vergleiche und historische Rekonstruktionen können – bei aller berechtigten Kritik – als positive Leistungen dieser Richtung hervorgehoben werden, speziell zu Jagd- und Sammel-Gesellschaften.

Die große Wende war die Erfahrung der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs: Politische Instrumentalisierung und rassistischer Missbrauch, etwa seitens des an der Akademie tätigen Altorientalisten, Nebenfach-Ethnologen und SS-Mitglieds Viktor Christian, machten es unumgänglich, nach 1945 einen radikalen, demokratischen und von Rassismus befreiten Neuanfang zu setzen. Dafür waren der aus dem Exil zurückgekehrte, vorhin schon erwähnte Robert Heine-Geldern und sein Schüler Walter Dostal maßgeblich.

Worin liegen die großen Erfolge in der zehnjährigen Geschichte des Instituts?

Gingrich: Für mich sind es drei primäre Aspekte, die heute die herausragende internationale Position des Instituts ausmachen: erstens große internationale Kooperationen, zweitens eine ganze Reihe von bedeutenden und viel frequentierten Veranstaltungen, etwa die jährlichen Eric Wolf Lectures, vor allem auch im interdisziplinären Bereich. Und drittens Publikationen als Ergebnis von mittel- und langfristigen Projekten, die immer auch einen anwendungsnahen Aspekt mit einschließen bei aller Orientierung an der Grundlagenforschung.

Und mit Blick in die Zukunft: Welche brennenden Fragen der Sozialanthropologie sollten in den nächsten zehn Jahren angegangen werden?

Gingrich: Ich möchte hier meiner Nachfolge nicht vorgreifen. Aber wie in den meisten Human- und Sozialwissenschaften hängt auch in der Kultur- und Sozialanthropologie alles davon ab, ob es uns möglich ist, zu grundlegenden Fragen der Menschheit wesentliche Einsichten zu liefern. Das heißt aktuell, Antworten auf die brennenden Fragen der menschlichen Gesundheit und der natürlichen Umwelt zu geben – immer durch die Lupe der eigenen Expertise und der kulturellen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Vielfalt als sozialanthropologischer Kernkompetenz betrachtet.

 

AUF EINEN BLICK

Andre Gingrich ist Professor em. am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien, war Gründungsdirektor des Instituts für Sozialanthropologie der ÖAW und ist wirkliches Mitglied der Akademie. Zuletzt erschien von ihm das gemeinsam mit Peter Rohrbacher herausgegebene Werk „Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945)“ im Verlag der ÖAW.