03.06.2024 | Russland und Ukraine

Putins Neo-Imperialismus in der Ukraine

Trat die Sowjetunion in der Ukraine als kolonialer Akteur auf? Im Rahmen einer internationalen Konferenz an der ÖAW beleuchten Expert:innen diese und weitere Fragen zur gemeinsamen - und trennenden - Geschichte Russlands und der Ukraine. Die Vortragende und Historikerin Alexandra Pulvermacher erklärt im Gespräch, warum sie im Fall des modernen Russlands eher von Imperialismus als von Kolonialismus spricht.

Das Lenin-Denkmal in Kiew: 1946 von der Sowjetunion in der ukrainischen Hauptstadt errichtet und 2013 im Zuge des Euromaidan zerstört. © AdobeStock

Russland kann heute keinen historisch begründeten Anspruch auf die Ukraine geltend machen. Das betont Alexandra Pulvermacher. Im Interview erklärt die Historikerin, die bei der internationalen Tagung „What is Russian Colonialism?“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) über ihre Forschungen berichtet, warum es sinnvoller ist, mit Blick auf das Verhältnis zwischen der UdSSR und der Ukraine von Imperialismus statt von Kolonialismus zu sprechen. Sie beleuchtet zugleich die aktuellen Perspektiven ukrainischer Forscher:innen sowie die geopolitischen Ambitionen und imperialen Ziele Wladimir Putins.

Einmal Tschekist, immer Tschekist.

Wladimir Putin scheint Russland wieder zu früherer geopolitischer Größe führen zu wollen. Oft ist aber unklar, ob er sich dabei am zaristischen Russland oder an der Sowjetunion orientiert. Wie beurteilen Sie das mit Blick auf die Ukraine?

Alexandra Pulvermacher: Putins imperiales Denken steht durchaus im Einklang mit dem Selbstverständnis der Sowjetunion. Er bezeichnete den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Er wurde in den 1970er Jahren im KGB sozialisiert und soll über sich selbst gesagt haben: Einmal Tschekist, immer Tschekist. So wurden die Geheimdienstler in der Sowjetunion genannt. Deren Methoden waren immer schon sehr elaboriert und perfide.

Auch wenn sich der Name der sowjetischen Geheimpolizei mehrmals änderte – von Tscheka, OGPU, NKVD, MGB, über den KGB und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schließlich zum FSB – so bestand hinsichtlich des Personals eine hohe Kontinuität. Der FSB ist maßgeblich für die Desinformationskampagnen verantwortlich, die wir heute im Westen erleben. Das wird leider immer noch unterschätzt. Lediglich beim Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich der FSB mit seiner Einschätzung der Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung meines Erachtens ziemlich getäuscht – er hat nicht mit diesem bemerkenswert starken Widerstandswillen gerechnet.

Kann Russland heute noch einen historisch begründeten Anspruch auf die Ukraine erheben?

Pulvermacher: Nein, heute nicht mehr. Russland hat mehrere Verträge unterzeichnet, u.a. das Budapester Memorandum, das die Souveränität des heutigen ukrainischen Staates, inklusive der Krim, bestätigt. Die Argumentation Putins, dass die Ukraine als Staat nicht existiere und es auch keine ukrainische Sprache gebe, stimmt jedenfalls nicht.

Russischer Kolonialismus?

Hat die UdSSR in der Ukraine Kolonialismus betrieben? Und wenn ja, woran kann man das festmachen?

Pulvermacher: Das hängt davon ab, wie man Kolonialismus definiert. Nach dem deutschen Historiker Jürgen Osterhammel kann es auch Kolonialismus ohne Kolonien geben. In der Beziehung zwischen der UdSSR und der Ukraine gibt es koloniale Elemente, aber es fehlt meines Erachtens die Kolonie. Vielmehr handelte es sich bei Moskau um ein sehr dominantes Zentrum und bei der Ukraine um eine abhängige Imperiumsperipherie. Ich würde eher von Imperialismus sprechen, sowohl im russischen Zarenreich als auch in der Sowjetunion. Und auch Wladimir Putin betreibt einen aggressiven Neoimperialismus.

De facto lief es in der Sowjetukraine auf eine Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung hinaus.

In Ihrem Vortrag sprechen Sie über das Nationalitätskonzept des Sowjetskij Narod in den 1970er Jahren. Was ist damit gemeint?

Pulvermacher: Sowjetskij Narod kann mit „sowjetisches Volk“ oder „sowjetische Nation“ übersetzt werden. Unter den Schlagworten Annäherung und Verschmelzung sollten die zahlreichen in der Sowjetunion bestehenden Ethnien langfristig zu einem sowjetischen Volk verschmelzen, wobei das russische Volk als primus inter pares galt. De facto lief es in der Sowjetukraine jedoch auf eine Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung hinaus. Gleichzeitig wurden Dissidenten massenhaft im Gulag oder in psychiatrischen Anstalten kaltgestellt.

Ohne die Ukraine ging es schon im Ersten Weltkrieg nicht.

Welche Rolle spielte die Ukraine in der Sowjetunion vor den 1970er Jahren?

Pulvermacher: Ohne die Ukraine ging es schon im Ersten Weltkrieg nicht. Sowohl nach der Februar- wie auch der Oktoberrevolution versuchten Teile der Ukraine, unabhängig zu werden. Im extrem blutigen russischen Bürgerkrieg besiegten die Bolschewiki die Ukraine und integrierten sie in die Sowjetunion. Anfang der 1930er Jahre sah Josef Stalin die Gefahr, dass die Ukraine verloren gehen könnte. Die unglaublich harten Repressionen gegen die ukrainischen Bauern und Bäuerinnen im Rahmen der Kollektivierung führten zu einer Hungerkatastrophe, dem sogenannten Holodomor, dem etwa 4,5 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen zum Opfer fielen. Zwischen den 1930er und 1950er Jahren folgten weitere Repressionswellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfte die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) noch bis in die 1950er Jahre gegen die sowjetischen Machthaber.

Nach Stalins Tod gewann die ukrainische Sprache wieder an Bedeutung, zudem stieg der Anteil der Ukrainer in leitenden Positionen. Anfang der 1970er Jahre kam es erneut zu einer Zäsur: Als Leonid Breschnew den ukrainischen Ersten Sekretär Petro Schelest quasi entmachtete und seinen Gefolgsmann Wolodymyr Schtscherbyzkyj einsetzte, der in den 1970er Jahren das Nationalitätenkonzept des Sowjetskij Narod durchsetzte, das de facto auf eine Russifizierung hinauslief. Soll heißen: Man hat Russen und Russinnen massenhaft in der Ukraine angesiedelt, die Mischehe massiv unterstützt, das Russische im Unterricht, in der Wissenschaft, in der Kultur enorm forciert und das Ukrainische gleichzeitig zurückgedrängt.

Gemeinsame historische Wurzeln

Dass eine kulturelle Annäherung verstärkt wurde, widerspricht also dem Kolonialismus-Begriff?

Pulvermacher: Genau. Dass das Ukrainische und das Russische kulturell relativ nah beieinander lagen, geht auf die gemeinsamen Wurzeln der Ukraine und Russlands in der Kiewer Rus zurück. Im Rahmen des Konzepts des Sowjetskij narod sollten beide Nationen sogar verschmelzen. Dies steht im Gegensatz zum Verständnis von einer Kolonie, in der die Unterschiede zwischen Kolonialherren und Kolonialisierte möglichst bewahrt werden sollten. Mischehen waren in Kolonien grundsätzlich nicht erwünscht.

Interessant ist auch, dass im Politbüro, also dem tonangebenden Gremium der Sowjetunion, einige Ukrainer vertreten waren. Das ist ein weiterer Grund, warum ich die Ukraine nicht als Kolonie sehe: Die Kolonialisierten durften in der Regel nicht mitregieren.

Und Nikita Chruschtschow versuchte in den 1950er und 1960er Jahren sogar, die Ukraine innerhalb der Sowjetunion als eine Art Juniorpartner Moskaus aufzubauen. 1954, zum 300. Jahrestag des Vertrages von Perejaslaw, bekam die Ukraine die Krim geschenkt. Für mich kein Indiz für Kolonialismus.

Wie sieht der Diskurs dazu in der Ukraine nach dem Zusammenbruch der UdSSR aus?

Pulvermacher: Da gibt es unterschiedliche Perspektiven. Vor allem ukrainische Forscher und Forscherinnen sehen die Ukraine als Kolonie und Opfer in der Sowjetgeschichte. Diese Sichtweise ist auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht ungewöhnlich. Ob und unter welchen Vorzeichen man von einem russischen Kolonialismus in der Ukraine sprechen kann, soll auf der Konferenz diskutiert werden.

 

AUF EINEN BLICK

Alexandra Pulvermacher forscht am Institut für Geschichte der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Abteilung für Zeitgeschichte zum Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in der besetzten Ukraine, 1941-44. Sie hat ebendort Slawistik und Geschichte studiert und 2023 zur deutschen und sowjetischen Besatzung Polens (Sept. 1939 – Juni 1941) promoviert. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich Europäische Geschichte, Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert, Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert und Zweiter Weltkrieg in Europa.

Internationale Konferenz: „What is Russian Colonialism?“
Termin: 4. bis 6. Juni 2024
Ort: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Anton Zeilinger Salon
Dr. Ignaz Seipel-Platz 2
1010 Wien

PROGRAMM