10.12.2021 | Biodiversität

Pflanzenvielfalt nimmt in Wiese, Wald und Gebirge ab

Immer mehr Pflanzenarten gehen verloren, während sich einige wenige großräumig ausbreiten. Diese Entwicklung weist ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der BOKU erstmals sowohl im Hochgebirge als auch in Wäldern und Wiesen nach. Der Hauptgrund für die Artenverschiebung: Erhöhte Stickstoffmengen in den Böden, verursacht durch agroindustrielle Landwirtschaft.

Alpine Blumenwiese
Die Pflanzenvielfalt auf Österreichs Wiesen wird weniger. Stickstoffliebende Arten verdrängen kleinwüchsige, seltenere Spezialisten für nährstoffarme Böden. © Harald Pauli/ÖAW

Wie der menschengemachte Landschafts- und Klimawandel den weltweiten Biodiversitätsverlust beschleunigt, hat ein internationales Team von Forscher/innen unter Beteiligung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) anhand der Verschiebung der Artenzusammensetzung erstmals in drei sehr unterschiedlichen Lebensräumen untersucht: in alpinen Gipfelzonen, in der Krautschicht von Wäldern sowie in artenreichen Wiesen und Weiden im Tiefland. Die Ergebnisse der Studie sind jetzt im Fachjournal Ecology Letters veröffentlicht.

Großräumige Auswirkung durch menschliche Aktivität

Der Befund ist besorgniserregend: Pflanzenarten mit großräumiger Verbreitung haben in den vergangenen Jahrzehnten an Häufigkeit zugenommen, bei gleichzeitigem Rückgang von Arten mit kleinen Verbreitungsgebieten. Zwar überwiegt in den alpinen Gipfelzonen noch die Artenzahlzunahme, das ergibt sich aber hauptsächlich aus dem Vordringen der allgemein weiter verbreiteten Arten der tieferen Lagen nach oben.

„Sehr beunruhigend ist, dass der Artenwandel in markant unterschiedlichen Ökosystemen ganz ähnlich abläuft, weshalb wir davon ausgehen müssen, dass wir es mit einem sehr weit verbreiteten Phänomen zu tun haben“, sagt Co-Studienautor Harald Pauli. Er ist Hochgebirgsökologe am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW und leitet das Monitoring-Netzwerk „Global Observation Research Initiative in Alpine Environments“ (GLORIA).

Hohe Stickstoffwerte in Böden bewirken Artenverschiebung

Woher dieser Wandel kommt? „Die wesentlichen Treiber dieses ungünstigen Prozesses sind erhöhte Nährstoffmengen in den Böden, etwa infolge von Stickstoffeinträgen vor allem aus der Landwirtschaft, aber auch aus Verbrennungsprozessen in Verkehr und Industrie sowie durch die Erwärmung der Böden, speziell im Hochgebirge“, erklärt Pauli. Aussagekräftige Indikatoren für hohe Stickstoffwerte sind die Pflanzenarten selbst: „Es gibt viele Arten, die Stickstoff verlässlich anzeigen, etwa die Brennnessel.“

Die erhöhten Stickstoffmengen wirken sich gleich zweifach ungünstig aus: Einerseits fördern sie das Wachstum der weitverbreiteten stickstoffliebenden Arten. Andererseits führt dies zu erhöhter Beschattung, was die Verdrängung der kleinwüchsigen, selteneren Spezialisten für nährstoffarme Standorte zu Folge hat. „Jede Art, die verloren geht, ist ein unwiederbringlicher Verlust und hat Auswirkungen auf das Ökosystem. Denn: Die verschiedenen Pflanzenarten stehen in Interaktionen mit Insekten, aber auch mit anderen Lebewesen, etwa mit Bodenorganismen“, sagt der sagt der Forscher, der auch Mitglied der Kommission für Interdisziplinäre Ökologische Studien der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist.

Intensive Landwirtschaft ist Hauptursache für Artensterben

Naturnahe Ökosysteme wurden in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in Ackerland und in intensiv bewirtschaftetes Grünland umgewandelt. Ein großer Teil dieser Flächen wird für Anbau von Futtermitteln für die industrielle Tiermast, also für Fleischproduktion, benötigt. Pauli: „Die massenhafte Tierproduktion führt wiederum zu massenhafter Gülle, die auf den Böden ausgebracht werden muss – das sind Stickstoffverbindungen, die nicht nur am Acker selbst, sondern auch in der Landschaft in Europa ihren Niederschlag finden.“

Über diese Entwicklung zeigt sich auch Co-Autorin Manuela Winkler, Forscherin am Institut für Botanik der BOKU, besorgt: „Alle Untersuchungsflächen befinden sich in naturnahen Ökosystemen, also fernab der ohnehin stark degradierten Flächen der intensiven Agrar- und Siedlungsräume", sagt sie. Und: „Selbst diese Rückzugsgebiete der Biosphäre sind also unmittelbar von Artenverlusten bedroht und – weil kleinräumig verbreitete durch weit verbreitete Pflanzen ersetzt werden – von einer zunehmenden Angleichung der Artengemeinschaften.“
„Wir beobachten, dass sich diese Dynamik in naturnahen Lebensräumen entfaltet, also an Orten, von denen wir erwarten würden, dass sie sichere Zufluchtsorte für spezialisierte Arten und solche mit hohem Erhaltungswert sind“, sagt Erstautor Ingmar Staude vom Deutschen Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Das deutet darauf hin, dass das Anthropozän nicht vor den Türen der wenigen verbliebenen Wildnisgebiete Halt macht, die wir als geschützt betrachten.“

Zusammenführung einzigartiger Datensätze

Grundlage für die wissenschaftliche Datenanalyse waren wiederholte Erhebungen des Artenbestands auf 141 Untersuchungsflächen in 19 europäischen Ländern. Die ältesten Datensätze reichen bis in die 1940er-Jahre zurück. Die Forschungsgruppe unter Federführung des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung erweiterte diese um aktuelle Daten der Gesamtverbreitung der insgesamt 1.827 erhobenen Pflanzenarten. Maßgeblich für die alpinen Daten waren Forscher/innen des an der ÖAW und der BOKU koordinierten GLORIA-Netzwerks.

 

Auf einen Blick

Publikation:
"Directional temporal turnover toward plant species with larger ranges across habitats", I.R. Staude, H.M. Pereira, G.N. Daskalova, M. Bernhardt‐Römermann, M. Diekmann, H. Pauli, et al., Ecology Letters, 2021
DOI: http://doi.org/10.1111/ele.13937

Förderung:
Die Studie wurde u.a. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Sie ist ein Produkt der sDiv-Synthesearbeitsgruppe sREplot. Das Synthesezentrum des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung sDiv finanziert Arbeitsgruppentreffen, in denen internationale Forschende gemeinsam wissenschaftliche Fragestellungen bearbeiten.

Rückfragehinweis:

Sven Hartwig
Leiter Öffentlichkeit & Kommunikation
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien
T +43 1 51581-1331
sven.hartwig(at)oeaw.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt:

Harald Pauli
Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Silbergasse 30/3, 1190 Wien
T +43 1 47654 83160
harald.pauli(at)oeaw.ac.at