Stammzellen: Von Mini-Gehirnen und großer Verantwortung
23.10.2025
“Wiener Forscher züchteten menschliche Mini-Gehirne.“ Mit dieser Schlagzeile einer Zeitung aus dem Jahr 2013 eröffnete Präsident Heinz Faßmann den öffentlichen Teil einer Gesamtsitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Festsaal in Wien. Aus einer spektakulären Meldung ist mittlerweile ein riesiges Forschungsfeld geworden, das laufend Grenzen verschiebt.
Was im ersten Moment wie Science-Fiction klingt, ist längst wissenschaftliche Realität: Forschende können aus Stammzellen winzige, dreidimensionale Gewebe wachsen lassen, die menschlichen Organen wie Herzen und Gehirnen erstaunlich ähnlich sind. Die sogenannten Organoide ermöglichen so einen einzigartigen Blick auf die Entwicklungsphasen des Menschen – und werfen zugleich ethische und rechtliche Fragen auf.
Revolution der Forschung
„Wir erleben derzeit eine komplette Revolution, wie biomedizinische Forschung betrieben wird“, hielt Jürgen Knoblich, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der ÖAW fest. Mit der Verfügbarkeit kompletter Genomsequenzen, mit der Genschere CRISPR/Cas9, mit induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) und daraus resultierend mit Organoiden habe sich das Feld der Forschung grundlegend verändert.
Großes Potenzial sieht Knoblich für die Pharmaforschung. Denn dort steigen die Kosten der Forschung exponentiell, „aber die Zahl der zugelassenen Medikamente wächst nur linear – viele scheitern in der klinischen Phase“. Organoide könnten helfen: „Die Idee ist, dass man mit Organoiden Krankheiten untersuchen kann. Und vielleicht auch Zellen gewinnt, die sich für Zellersatztherapien eignen.“
Der Startpunkt für zahlreiche Forschungsaktivitäten war die Arbeit von Madeleine Lancaster, sie hat die ersten Hirnorganoide zur Untersuchung von Krankheiten entwickelt. Knoblich betonte: „Am IMBA ist es gelungen, einen weltweiten Schwerpunkt in diesem Bereich zu etablieren.“ Weitere Beispiele sind Herzorganoide, Blastoide – hergestellt von Nicolas Rivron, „damit könnte man die Mechanismen von Unfruchtbarkeit verstehen oder neue Wege der Empfängnisverhütung entwickeln“ – und Gastruloide, an denen Kristina Stapornwongkul arbeitet.
Krankheiten im Miniaturformat
Die Möglichkeiten der Forschung sind vielseitig: Bei Gehirnorganoiden werde zum Beispiel sichtbar, dass „neurologische und psychiatrische Erkrankungen an Veränderungen der Netzwerkarchitektur erkennbar sind, etwa bei Epilepsie“. Am IMBA habe man es etwa schon geschafft die Krankheit tuberöse Sklerose im Organoidmodell nachzubauen. Knoblich lieferte ein weiteres Beispiel: „Wir haben Organoide zehn Monate wachsen lassen – sie spiegeln Prozesse wider, die nach der Geburt eines Kindes ablaufen. Wir glauben, dass diese Prozesse für die Entstehung von Autismus sehr relevant sind.“
Auch zu den Grenzen der Forschung nahm Knoblich Stellung: „Synthetische Embryomodelle darf man nur bis Tag 14 kultivieren. Das ist der Punkt, an dem die Forschung derzeit steht.“ Das Fazit des Forschers: „Organoiden sind gekommen, um zu bleiben.“ Sie könnten letztendlich dabei helfen, die präklinische Zulassung von Medikamenten effizienter und gezielter zu machen und Tierversuche reduzieren
Zwischen Forschung und Verantwortung
Doch je besser und je menschenähnlicher die Modelle werden, desto dringlicher werden die ethischen Fragen. Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, sprach über die „Büchse der Pandora“, die sich mit der Erforschung von Lebensfragen öffnet. „Es braucht die Forschung an Stammzellen, aber es braucht auch Regeln.“ Druml verwies etwa auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Embryomodellen: „Wir müssen unterscheiden zwischen Embryoiden, die sich theoretisch zu einem Menschen entwickeln könnten, und solchen, die das aufgrund fehlender extra-embryonaler Gewebe nicht können.“ Hochrangige Forschungsziele sollten, so Druml, „von Ethikkommissionen begleitet und unterstützt werden“.
Besondere Aufmerksamkeit gilt den Gehirnorganoiden. Immer wieder wird in der Öffentlichkeit diskutiert, ob diese Mini-Gehirne eines Tages ein eigenes Bewusstsein entwickeln könnten. Druml ordnete diese „Bewusstseinsfrage“ sachlich ein: Sie sei bisher rein theoretisch und dürfe nicht über das tatsächliche Forschungsfeld hinaus dramatisiert werden. Entscheidend sei, dass solche Fragen Teil eines breiten gesellschaftlichen Diskurses sind. „Wir brauchen Ethikkommissionen und eine offene Diskussion in der Bevölkerung“, betonte sie.
Rechtliche Grauzonen
Auch das Recht ist gefordert. Karl Stöger, Leiter des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien, erläuterte: „Am Beispiel der Embryomodelle zeigt sich, dass es in Österreich keine ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen gibt.“
Anders als Stammzellen gelten Embryomodelle rechtlich nicht als „entwicklungsfähige Zellen“. Immer gilt: „Es braucht die Zustimmung der Person, deren Zellen genutzt werden“, so Stöger. Die Rechtslage sei insgesamt sehr wissenschafts- und forschungsfreundlich. „Für die Grundlagenforschung gibt es keine gravierenden Hindernisse.“ Auch Gehirnorganoide seien im österreichischen Recht „nicht speziell gestellt“. „Über die Entwicklung von Bewusstsein wird viel diskutiert, aber rechtlich ist das kein Thema“, betonte Stöger.
Die neue Nähe zum Ursprung
Stammzellforschung und Organoide öffnen ein Fenster in die frühesten Phasen menschlichen Lebens – und konfrontieren Wissenschaft und Gesellschaft mit Fragen, die weit über das Labor hinausreichen. Die Diskussion bei der ÖAW zeigte, wie eng wissenschaftlicher Fortschritt, Ethik und Recht ineinandergreifen. Die Faszination an diesen neuen Modellen ist groß – doch sie verlangt zugleich Verantwortung, Transparenz und klare Leitlinien.