30.10.2024 | Geschichte

Wien: Stadt der Migration

Zuwanderung und Mobilität waren für Wien schon in der Frühen Neuzeit entscheidend. Anlässlich einer ÖAW-Konferenz zu Migration in zentraleuropäischen Städten schildert der Historiker Peter Rauscher, welche Rolle Türkenbelagerung, Wirtschaft und Kaufleute beim Wachstum der kaiserlichen Residenzstadt spielten.

Wien auf einer Malerei von Bernardo Bellotto um das Jahr 1760, betrachtet vom Belvedere aus. Zu diesem Zeitpunkt zählt die Stadt bereits knapp 175.000 Einwohner:innen. © Wikimedia Commons/PD

Die Entwicklung von Städten ist seit jeher eng mit Zuwanderung verbunden: Während das natürliche Bevölkerungswachstum im urbanen Gebiet oft hinter dem ländlichen Raum zurückbleibt, ist es vielfach die Migration, die Städte am Leben hält - oder sie wachsen lässt. Auch Wien stellte in der Vergangenheit diesbezüglich keine Ausnahme dar.  

Mit der vom Institut für Geschichte der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) organisierten internationalen Tagung "Migrationsziel Stadt. Städtequadralog: Krakau, Prag, Nürnberg und Wien im Vergleich" vom 6. bis 8. November soll dieser Zusammenhang genauer in den Blick genommen werden. Beleuchtet werden dabei unterschiedlichste Perspektiven, die dabei helfen sollen, die Wechselwirkung zwischen Stadt und Migration genauer zu verstehen. Einen aufschlussreichen Aspekt stellt Peter Rauscher vor: Der Historiker an der Universität Wien konzentriert sich in seinen Forschungen auf die Wiener Kaufleute. Im Gespräch schildert er, welche Rolle diese inhomogene Gruppe bei der Migration in der Frühen Neuzeit einnahm, warum die Türkenbelagerung im Jahr 1683 für die Stadtentwicklung Wiens ein Wendepunkt war und welche Anziehungskraft die Stadt auf Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts ausüben konnte. 

Wien als dominierende Stadt Zentraleuropas

Wie groß war Wien in der Frühen Neuzeit?

Peter Rauscher: Wien hatte um die Mitte des 17. Jahrhunderts, also nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, bereits etwa 60.000 Einwohner:innen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs die Stadt auf ca. 175.000 an – trotz Kriegen wie der Türkenbelagerung oder Seuchenereignissen. Wien war zu diesem Zeitpunkt zur dominierenden Stadt Zentraleuropas aufgestiegen, hatte also Venedig beispielsweise bereits überholt.

Wir sehen also im späten 17. und frühen 18. Jahrhunderten einen regelrechten zivilen Bauboom in Wien.

Was führte dazu dieser Entwicklung?

Rauscher: Das Wachstum ist auf Migrationsprozesse zurückzuführen, die wiederum mit der Änderung des Stadtcharakters in Verbindung stehen: Nach der überstandenen Türkenbelagerung Wiens im Jahr 1683 wurde das Osmanische Reich nach und nach weiter in den ungarischen Raum zurückgedrängt. Wien konnte dadurch die Funktion einer Grenzstadt abstreifen.

Da man nun keine ausgeprägte Angst vor Zerstörungen mehr haben musste, wurden viele der heute noch bestehenden innerstädtischen Palais, aber auch die Karlskirche und das Belvedere, zu genau dieser Zeit errichtet. Wir sehen also im späten 17. und frühen 18. Jahrhunderten einen regelrechten zivilen Bauboom in Wien, der – nicht ganz anders als die berühmte Gründerzeit rund 150 Jahre später – bis heute seine Spuren im Wiener Stadtbild hinterlassen hat. 

Und wer migrierte nach Wien?

Rauscher: Das war zunächst der Hochadel des Habsburgerreiches, der nach der überstandenen Türkenbelagerung massiv nach Wien drängte. Diese Adelsfamilien brachten ihre Bediensteten mit, die nochmal eine deutlich größere Personengruppe darstellten. Gemeinsam übten sie eine starke wirtschaftliche Anziehungskraft auf viele andere Berufsgruppen aus, beispielsweise auf Handwerker:innen oder Händler:innen, die sich nun ebenfalls in Wien niederließen und dabei vom Bauboom und der gestiegenen Nachfrage nach Waren zu profitieren versuchten.

Anziehungskraft aus der Wirtschaft 

Welche Rolle spielten wirtschaftliche Dynamiken dabei?

Rauscher: Wien entwickelte sich zu einem Zentrum des Konsums. Einerseits stimulierte der nun in Wien konzentrierte Hochadel die Nachfrage nach Luxusgütern, also beispielsweise nach Seidenwaren, Delikatessen und Schmuck. Das spielte für den überregionalen Handel eine große Rolle.

Andererseits befeuerten die Bediensteten dieser Adelsfamilien den Massenkonsum, indem sie die Nachfrage nach regional oder lokal gehandelten Waren und nach Dienstleistungen steigerten. Es war insgesamt also eine wirtschaftlich dynamische Zeit für die Stadt.

Sie konzentrieren sich in Ihren Forschungen auf die Kaufleute in Wien. Wer war das?

Rauscher: Die Kaufleute in Wien stellten keine homogene Gruppe dar. Sie umfasste sowohl Wiener Bürger:innen, Händler:innen im Auftrag des Hofes und sogenannte Niederleger:innen, die ursprünglich aus süddeutschen Städten, dann aber auch aus Italien, Westungarn, Savoyen oder Tirol stammten, als auch ansässige jüdische Bankiers und – speziell nach einem Handelsvertrag mit dem Osmanischen Reich im Jahr 1718 – Griech:innen, Armenier:innen und muslimische Händler:innen. Dazu kamen Kaufleute aus dem westungarischen Raum, aus Böhmen, Mähren und dem niederösterreichischen Umfeld.

Grundsätzlich durften auswärtige Händler in Wien nur während des Jahrmarktes Handel treiben. Sondergenehmigungen öffneten aber bestimmten Gruppen fremder Händler:innen einen dauerhaften Zugang zum Wiener Markt. Viele davon ließen sich – auch ohne Bürgerrecht – in Wien nieder, holten Familienmitglieder nach und bildeten eigene Communities innerhalb der Stadt.

Internationale Stadt

Kam es zur Durchmischung dieser Communities?

Rauscher: Innerhalb der religiösen Gemeinschaften durchaus, also etwa zwischen Angehörigen katholischen Glaubens. Über die religiösen Grenzen hinweg, also beispielsweise zwischen protestantischen, jüdischen, orthodoxen oder muslimischen Familien ist das kaum zu beobachten. Die Communities blieben also weitgehend separiert.

Man muss auch davon ausgehen, dass es Rivalitäten und Ressentiments zwischen den verschiedenen Communities gegeben hat. Antisemitismus, Nationalismus und religiöse Intoleranz waren in der frühen Neuzeit auch in Wien sehr präsent.

Wien war in der frühen Neuzeit eine für viele Bevölkerungsschichten attraktive und damit auch eine sehr internationale Stadt.

Wie international war Wien in der frühen Neuzeit?

Rauscher: Die Wiener Bevölkerung war sehr bunt, das sehen wir nicht nur bei den Kaufleuten. Migration nach Wien fand auf allen Ebenen statt, von der Adelsgesellschaft, die in Wien die Nähe des Kaiserhofs suchte, über Diplomaten und ihre Entourage, Ordensgeistliche bis hin zur mobilen Schicht der wandernden Handwerker und der Militärs. 

Wien war in der frühen Neuzeit eine für viele Bevölkerungsschichten attraktive und damit auch eine sehr internationale Stadt.

 

Auf einen Blick

Peter Rauscher forscht an der Universität Wien zur Wiener Kaufmannschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Über seine Forschungen spricht er im Rahmen der Tagung „Migrationsziel Stadt“.