Kann Europa gemeinsam aufrüsten?
14.04.2025
Die Europäische Union steht vor einer historischen Zäsur: Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und des zunehmenden Drucks der USA auf höhere Verteidigungsausgaben plant die EU eine umfassende Aufrüstung. Doch was bedeutet das für die europäische Sicherheits- und Außenpolitik, die lange von der Idee des Friedens geprägt war?
„Europäische Souveränität muss demokratisch legitimiert werden“, sagt die Politikwissenschaftlerin Sonja Puntscher Riekmann. Im Interview spricht das Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) über den „ReArm Europe“-Plan der EU-Kommission, die Herausforderungen einer gemeinsamen Sicherheitspolitik und die Risiken einer Militarisierung auf Kosten des Sozialstaats. Sie plädiert für eine konsequente europäische Souveränität, die nicht nur militärisch, sondern auch diplomatisch gestärkt werden muss, und erklärt, warum Europa den Einsatz für das Völkerrecht gerade jetzt nicht aufgeben darf.
ReArm Europe
Frau Puntscher Riekmann, die EU will 800 Milliarden Euro für die Aufrüstung ausgeben. Wie sehen Sie den „ReArm Europe“-Plan der EU-Kommission?
Sonja Puntscher Riekmann: Die Europäische Union steht vor einer völlig neuen geopolitischen Situation: erstens vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zweitens vor verschärften Aufforderungen der USA an die Union, ihren finanziellen Verpflichtungen von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (und darüber hinaus) gegenüber der NATO nachzukommen. Drittens vor beständigen, wenn auch inhaltlich schwankenden Drohungen der Trump-Administration, sich verteidigungspolitisch aus Europa zurückzuziehen, wirtschafts- und handelspolitisch protektionistisch – siehe die neue amerikanische Zollpolitik – zu agieren und internationales Recht zu ignorieren. Und viertens vor dem Negieren ihrer Bedeutung im globalen außen- und sicherheitspolitischen Geschehen, das von den Machtansprüchen der drei Großen – USA, China und Russland – geprägt wird.
Ist eine einheitliche Sicherheitspolitik denn realistisch?
Puntscher Riekmann: Dass die Union als globaler Wirtschaftsriese nun angesichts neuer Konfliktlagen auch militärisch aufrüsten will, ist eine konsequente, aber unvollständige Haltung, solange sie nicht mit wirkmächtigen und von allen Mitgliedsstaaten geteilten außenpolitischen Strategien einhergeht. Das Mantra "Die Union muss außen- und sicherheitspolitisch mit einer Stimme sprechen" ist wohlfeil, solange die Interessen und Krisendefinitionen der Mitgliedstaaten nicht konvergieren.
Laut dem Stockholmer Friedensinstitut Sipri haben europäische Staaten ihre Waffenimporte bereits um 155 Prozent gesteigert. Ist der Eindruck, Europa sei wehrlos, dennoch richtig?
Puntscher Riekmann: Die Wehrlosigkeit wird derzeit politisch und medial auch herbeigeredet, um die anvisierten Ausgaben zu legitimieren. In der Tat haben in den vergangenen Jahren einzelne Staaten massive militärische Investitionen getätigt. Es fehlt aber immer noch an der Verknüpfbarkeit nationaler militärischer Kapazitäten untereinander, und Waffenkäufe heben die technologische Abhängigkeit von den Verkäufern, allen voran den USA, nicht auf. Im Gegenteil.
Die Wehrlosigkeit Europas wird derzeit politisch und medial auch herbeigeredet, um die anvisierten Ausgaben zu legitimieren.
Dabei ist die materielle Aufrüstung nur eine Seite der Medaille, die andere Seite ist der Mangel an Truppen und an der allgemeinen Bereitschaft, diese im Notfall auch einzusetzen. Dazu kommt der Mangel an einer machtvollen europäischen Diplomatie, die komplementär zur Aufrüstung entwickelt werden müsste. Der Ausschluss der Union, die ihre ursprüngliche raison d'être aus dem Frieden in Europa gewann, aus den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, aber auch in den Nahostkonflikten, ist eine bittere Ironie der Geschichte, aber auch die Folge eines Mangels an gemeinsamer Strategie.
Hohe Staatsschulden
Welche Folgen könnte diese Aufrüstung für andere wichtige gesellschaftliche Bereiche wie Klimaschutz, Sozialstaat, Bildung haben?
Puntscher Riekmann: Große Rüstungsinvestitionen haben angesichts der enormen Staatsschulden vieler EU-Mitgliedstaaten naturgemäß Auswirkungen auf andere Staatsausgaben. Dafür will die Kommission nun die Schulden- und Defizitregeln der Union aufweichen und Ausgaben aus den Struktur- und Kohäsionsfonds umschichten. Die Aufforderung, Europa müsse von "welfare" auf "warfare" umschalten, ist das Ergebnis des Diskurses über Europa als Profiteur der Friedensdividende und des amerikanischen Vorwurfs, es habe sich allzu lange als "Trittbrettfahrer" der USA geriert. Ignoriert werden dabei die enormen Leistungen Europas im Ukraine-Krieg sowohl bei der Militär- und Wirtschaftshilfe als der Aufnahme von Flüchtlingen. Nicht zuletzt wird der Wiederaufbau der Ukraine eine europäische Aufgabe sein.
Der Sozialstaat ist kein Luxus gegenüber der militärischen Sicherheit, sondern eine Errungenschaft der Europäer:innen, um den inneren Frieden zu sichern.
Festzuhalten ist schließlich, dass der Sozialstaat im weiten Sinne des Wortes die große Errungenschaft der Europäer:innen ist, um den inneren Frieden in Europa zu sichern. Wer diesen nun als Luxus gegenüber der militärischen Sicherheit abqualifiziert, begibt sich auf gefährliches Terrain.
Was wäre eine alternative Strategie für die europäische Sicherheit, wenn nicht massive Aufrüstung?
Puntscher Riekmann: Zunächst einmal die wirkliche Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen, mithin die Bündelung und Konnektivität der vorhandenen Ressourcen und die Schaffung einer Außen- und Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene. Dies impliziert die Übertragung von Souveränität auf die Union. Europäische Souveränität, eine seit langem vorgetragene Forderung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, sollte das Ziel sein.
Neue Weltordnung
Europäische Souveränität muss das Ziel sein.
Was stärkt die europäische Souveränität?
Puntscher Riekmann: Europäische Souveränität hat zwei Aspekte: Souveränität nach innen und nach außen. Beides muss demokratisch legitimiert werden. Dann erst kann man die Frage der Rüstungsmängel sinnvoll diskutieren und finanziell wie institutionell lösen.
Nicht zuletzt: Eingedenk ihrer bisherigen Geschichte als Friedensunion sollte Europa vor allem die Diskussion über eine neue Weltordnung nach den herrschenden völkerrechtlichen Kriterien und innerhalb internationaler Organisationen vorantreiben. Dies erfordert große diplomatische Anstrengungen, denn heute sind das Völkerrecht und die internationalen Institutionen von der UNO bis zur WTO in Gefahr, von imperialen Machtansprüchen zerrieben zu werden. Dass ausgerechnet die USA, die im Schatten des zweiten Weltkrieges den Aufbau internationaler Ordnungshüter initiiert und mit betrieben haben, diese offensiv in Frage stellen, ist ein Auftrag für Europa sie souverän zu verteidigen. Wenn die Union Russlands Krieg gegen die Ukraine als Völkerrechtsbruch bezeichnet, kann sie den Anspruch der USA auf Kanada, Grönland und Panama nicht kommentarlos übergehen.
Auf einen Blick
Sonja Puntscher Riekmann ist Politikwissenschaftlerin und wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie war von 2003 bis 2011 Vizerektorin der Universität Salzburg und bis zu ihrer Emeritierung 2019 Universitätsprofessorin für Politische Theorie und Europäische Politik an der Universität Salzburg.