



Wie bewahrt man die Erinnerung an den Holocaust, wenn die letzten Zeitzeugen verstummen? Anna Goldenberg, Journalistin und Autorin des Buches „Versteckte Jahre“, bezeichnet sich selbst als „Hüterin der Familiengeschichte“. Als Enkelin von Holocaust-Überlebenden setzt sie sich für eine lebendige Erinnerungskultur ein und setzt auf lokale Projekte und authentische Verbindungen zur Vergangenheit. „In Österreich gibt es kaum einen Straßenzug, der nicht von der NS-Zeit geprägt wurde. Diese Orte können als Anknüpfungspunkte dienen“, sagt sie. Angesichts erstarkender rechtsextremer Tendenzen mahnt Goldenberg zur Vorsicht: „Wir müssen sehr, sehr wachsam sein.“
Darüber, wie Nachkommen familiäre und kollektive Traumata aufarbeiten und welche Rolle unter anderem literarisch-künstlerische Perspektiven dabei spielen, spricht Anna Goldenberg am 28. Jänner 2025 im Rahmen der Podiumsdiskussion „Die Gegenwart des Holocaust“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
In Ihrem Buch „Versteckte Jahre“ bezeichnen Sie sich als „Hüterin der Familiengeschichte“. Wann haben Sie begonnen, sich auf Spurensuche zu begeben und die Geschichte Ihrer Großeltern, beide Überlebende des Holocaust, zu rekonstruieren?
Anna Goldenberg: Obwohl mir meine Familiengeschichte immer präsent war, wurde mir erst im Ausland bewusst, dass ich eine Art „historische Anomalie“ darstelle. Ich habe in England studiert und dann in den USA eine journalistische Ausbildung gemacht. Schon in England wurde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert: „Du bist Jüdin aus Österreich? Wie passt das zusammen?“ Diese Identitätsfrage wurde noch intensiver, als ich nach New York kam, wo es eine große jüdische Gemeinde gibt. Ich habe nach Antworten gesucht und das Thema dann zum ersten Mal journalistisch behandelt: Es war ein Beitrag über meine Großmutter, eine Geschichte, die auch den Anfang meines Buches bildet.
Wie sind Sie mit den Vorbehalten umgegangen, als Jüdin in Österreich zu leben?
Goldenberg: Anfangs habe ich versucht, es zu verteidigen, weil ich das Gefühl hatte, dass mir entweder meine Jugend abgesprochen wird oder ein Vorwurf gegenüber meinen Großeltern mitschwingt – als wären sie opportunistisch oder zu feig gewesen auszuwandern. Aber wenn ich etwas aus der Geschichte meiner Großeltern gelernt habe, dann dass es nicht diese großen, eindeutig richtigen oder falschen Entscheidungen gibt. Meine Großeltern blieben in Wien aus pragmatischen Gründen, weil sie halbwegs Fuß fassen konnten und weil hier noch einige Menschen waren, die sie kannten. Da will ich nicht zu viel Ideologie hineininterpretieren.
Ist die intensive Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte etwas Spezifisches für die dritte Generation?
Goldenberg: Als Enkelkinder haben wir eine gewisse Distanz, die es uns erlaubt, freier über die Vergangenheit zu sprechen. Wir haben oft einen anderen Zugang, weil wir nicht direkt mit den Traumata unserer Großeltern aufgewachsen sind. Gleichzeitig kann die dritte Generation viele Fragen nicht mehr stellen, weil viele Zeitzeug:innen bereits verstorben sind.
Die dritte Generation viele Fragen nicht mehr stellen, weil viele Zeitzeug:innen bereits verstorben sind.
Ihre Großmutter nahm Sie immer wieder zu Auftritten von Zeitzeug:innen mit. Wie verändert sich das Gedenken, wenn es keine Zeitzeug:innen mehr gibt?
Goldenberg: Es wird nicht an der Faktenlage scheitern. Der Holocaust ist gut dokumentiert. Die größte Herausforderung wird sein, die persönliche Verbindung zur Geschichte aufrechtzuerhalten. Es gibt zwar umfangreiche Aufzeichnungen und Interviews mit Überlebenden – die Shoah Foundation von Steven Spielberg hat etwa 52.000 Interviews gesammelt – aber das direkte Fragen-Stellen und damit die Chance eine Verbindung zu sich selbst herzustellen, gehen verloren.
Wie kann Erinnerung dennoch lebendig gehalten werden?
Goldenberg: Es braucht authentische und direkte Verbindungen. Es gibt auch Projekte und Schulbesuche der zweiten und dritten Generation, an einem Projekt bin ich beteiligt. Auch Gedenkorte können das zum Teil leisten. In Österreich gibt es kaum einen Straßenzug, der nicht von der NS-Zeit geprägt wurde. Diese Orte können als Anknüpfungspunkte dienen, um die Geschichte lebendig zu halten. Ich erinnere mich an ein Schulprojekt in Wien im 10. Bezirk, wo Schüler:innen auf Spurensuche gingen. Fast alle hatten Migrationshintergrund. Anfangs dachten viele, es sei nicht ihre Geschichte. Aber als sie vor Orten in ihrer Nachbarschaft standen, wurde es zu ihrer Geschichte. So kann man im Mikrokosmos noch viel bewirken und einen lebendigen Bezug zur Vergangenheit herstellen.
Es gibt auch Projekte und Schulbesuche der zweiten und dritten Generation.
Wie nahe die Recherche geht, kommt in Ihrem Buch immer wieder zum Vorschein. Darin beschreiben Sie auch das Ringen um Distanz in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Wie gelingt das?
Goldenberg: Das ist eine ständige Gratwanderung. Einerseits möchte ich so viele Details wie möglich recherchieren und die NS-Logik nachvollziehen, andererseits muss ich aufpassen, nicht zu sehr in den „Apparat der Vernichtung“ einzutauchen. Es braucht eine gewisse Distanz, um nicht zynisch zu werden oder zu verrohen.
Wir müssen sehr, sehr wachsam sein.
Gleichzeitig hat die Recherche meine Wahrnehmung von Wien verändert. Wenn ich jetzt durch die Stadt gehe, habe ich eine zusätzliche Schablone im Kopf. Ich sehe die Orte, an denen meine Großeltern verfolgt wurden. Am Weg zu meiner Arbeit komme ich an der Zelinkagasse vorbei, dort – in der noblen Innenstadt – musste meine Großmutter in einer so genannten Sammelwohnung leben.
Aktuell drängen Rechtsextreme wieder an die Macht, auch in Österreich. Antisemitische Codes haben sich verändert, aber sind immer noch präsent. Wie kann man dagegenhalten?
Goldenberg: In dem man keine Koalition mit ihnen eingeht. Noch ist es nicht zu spät. Es braucht eine scharfe Abgrenzung. Antisemitisches Denken ist in all diesen Verschwörungserzählungen noch sehr präsent. Wir müssen sehr, sehr wachsam sein. Leider sind auch viele Linke auf dem antisemitischen Auge blind. Besonders nach dem Massaker vom 7. Oktober hat sich gezeigt, dass Antisemitismus in Form von Israelfeindlichkeit immer noch weit verbreitet ist, auch in Kreisen, von denen ich es nicht erwartet hatte.
Die Gegenwart des Holocaust"
Datum: 28. Jänner 2025, 18:30 Uhr
Ort: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien
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