19.10.2021 | Buchtipp des Monats

Helmut Birkhan über seine Kindheit

Von seinen Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit erzählt der Wiener Mittelalterforscher Helmut Birkhan in seinem jüngsten Buch. Im Interview zum Buchtipp des Monats spricht das ÖAW-Mitglied über das Wienerische, ein Marionettentheater, das noch vom Großvater stammt, und seine literarische Sozialisation durch Märchen in jeglicher Form.

© Helmut Birkhan/Vitalis Verlag

Wissen Sie, was „unxunz Glumbat“ bedeutet oder was ein „Grischbindl“ oder ein „Dschoppal“ ausmacht? Und kennen Sie sich aus, wenn von „králowat“, „bäulisíarn“ und „schmafú“ die Rede ist? Helmut Birkhan, Wiener Mediävist, Keltologe und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), erinnert sich in seinem neuen Buch an seine Kindheit in Wien und lässt darin auch diese oft schon vergessenen wienerischen Ausdrücke wiederaufleben.

Geboren wurde Helmut Birkhan 1938 in Wien. Er studierte an der Universität Wien zunächst Philosophie, Psychologie und Germanistik, verlagerte seinen Schwerpunkt dann auf Altgermanistik, Klassische Philologie, Philosophie und Psychologie. 1972 wurde er zum Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Wien berufen. 1988 begründete er das Studium der Nederlandistik in Wien. 1997 habilitierte er sich mit dem Versuch einer Gesamtdarstellung der keltischen Kultur in einem zweiten Fach und 1999 gründete er die Keltologie als Individuelles Diplomstudium an der Universität Wien.

Nach seiner Emeritierung im Herbst 2006 hat er aber nicht aufgehört zu arbeiten. Im Gegenteil. Seither hat er zahlreiche Bücher zur mittelalterlichen Alltagskultur in Theorie und Praxis verfasst – und jetzt über die Weltkriegs- und Nachkriegszeit aus Kindersicht.

Heuer ist Ihr autobiografisches Buch erschienen, in dem Sie sich an Ihre Kindheit in Wien erinnern. Wie ist es Ihnen bei dieser Zeitreise zurück in das Wien der Kriegs- und Nachkriegszeit gegangen?

Helmut Birkhan: Beim Schreiben des Buches habe ich mich gerne an die Kochkunst meiner Mutter und die verschiedenen Ausdrücke, darunter viele kulinarische, erinnert. Meine Kindheit war behütet und sehr schön. Mein Vater war Bauingenieur und wurde deshalb nicht eingezogen. Er hatte einmal in der Steiermark eine Baustelle und wir sind mit ihm in dieser Zeit nach Sankt Kathrein am Hauenstein in die Gegend von Peter Rosegger gezogen. Dort bin ich oft in den Wald gerannt und mit Taschen voller Schwammerl zurückgekehrt, die mein Vater bestimmen musste. Sie wurden dann am Abend gegessen.

Ich bin gern in die Schule gegangen. Weil wir Kinder die Lehrer so häufig geärgert haben, hatte ich nicht selten einen Zweier oder Dreier in Betragen. Und ich habe ausgesprochen gerne in der Schule geboxt. 1951 mussten wir unsere Wiener Wohnung aufgeben und sind nach Kalksburg gezogen. Auch das habe ich genossen. Wir hatten allerhand Geflügel, ich war viel in der Natur und habe Pflanzen bestimmt. So bin ich zum Hobbybotaniker geworden.

Sie schreiben, Sie wären weltfremd aufgewachsen, weil sie ein behütetes Familienleben in einer Zeit hatten, in der Österreich nationalsozialistisch war. Wie kommt der Krieg in Ihren Kindheitserinnerungen vor?

Birkhan: Als kleines Kind war mir vieles noch nicht bewusst. Indirekt aber wusste ich, dass die jüdische Bevölkerung aus der Stadt deportiert wurde. Wir hatten einen jüdischen Flickschuster, der plötzlich nicht mehr da war – und wir konnten unsere Schuhe nicht mehr abholen. Ich war sieben Jahre alt, als wir für kurze Zeit in Sankt Leonhard am Hornerwald im Waldviertel lebten, da war ich schon mehr politisch informiert. Mein Vater war im Herzen Sozialist und hat ab und zu gehässige Bemerkungen über die Nazis gemacht. Meine Mutter war eher katholisch. Ich erinnere mich, dass ich nach den Luftangriffen, die wir im Luftschutzkeller verbrachten, nach Flaksplittern suchte. Das waren goldglänzende zerfetzte Teile, die ich einsammelte und mit denen ich in meinem Geheimfach ein kleines Splitter-Museum einrichtete.

In Ihrem Buch lassen Sie viele verschwindende Wörter wiederaufleben. Vermittelt sich Erinnerung bei Ihnen auf Wienerisch?

Birkhan: Mir fallen ständig noch mehr alte wienerische Ausdrücke ein, die kommen gar nicht alle in meinem Buch vor. Für die Lautschrift habe ich das Wiener Wörterbuch von Maria Hornung herangezogen. Wir sind mit dem Wienerischen aufgewachsen. Mein Vater hat Wienerisch gesprochen, meine Mutter ebenso, allerdings mit sudetendeutschem Einschlag. In der Familie haben wir öfters über ihre Sonderwörter geblödelt. Aber wir konnten jederzeit auch in die Schriftsprache wechseln, weil es bei uns sehr literarisch zugegangen ist.

 

Apropos Literatur. Im Vorwort wird auch Ihre literarische Sozialisation angesprochen. Das Vorlesen und Geschichtenerzählen war also schon immer ein wichtiger Bestandteil in Ihrem Leben?

Birkhan: Ich bin mit Märchen aufgewachsen und habe über „Die Verwandlung in der Volkserzählung“ promoviert. Meine Kindheit war aber auch geprägt von Texten von Wilhelm Busch und Parodien – heute noch kann ich viele davon auswendig. Wie auch von Christian Morgenstern, den ich an inoffiziellen Morgenstern-Abenden gerne rezitierte. Und Goethe natürlich. Einerseits habe ich sein Faustwerk immer sehr verehrt, andererseits ist er mir schon auch auf die Nerven gegangen. Denn: Bei meinem akademischen Lehrer, Otto Höfler, hatte alles mit Goethe begonnen und geendet. Ich habe deshalb einige Zitate von Johann Peter Eckermann auswendig gekonnt. Dinge, die heute kein Mensch mehr kennt, kann ich auswendig.  

Sie erzählen auch von einem Marionettentheater aus Karton, das aus der Zeit um 1900 stammt. Was hat es damit für eine Bewandtnis?

Birkhan: In Wien sagte man früher Pimperltheater zu so einem Marionettentheater – und die Marionetten hießen Pimperlfiguren. Ein solches Theater ist von meinem Großvater über meinen Vater auf mich gekommen. Die Figuren stammen aus den vergangenen 150 Jahren. Manche sind angekauft, manche selbstgemacht. Mein Vater schnitzte welche, und auch ich habe ein paar angefertigt.

Ich bin seit 2006 emeritiert und habe in dieser Zeit Bücher über das Mittelalter geschrieben, über Spiele, Magie und Pflanzen zu jener Zeit. Und dann wollte ich mich dem Marionettentheater widmen. Also habe ich eine kleine Theatergeschichte verfasst, bei der alle Figuren samt Requisiten vorkommen. Ich orientiere mich am Ur-Faust, gespickt ist das Ganze aber mit Elementen aus dem germanischen Heidentum, der Lohengrin-Sage, aus Hänsel und Gretel, Dornröschen und anderen Sagen- und Märchenstoffen – und kommt natürlich nicht ohne komische, insbesondere parodistische Anklänge aus.

Vergleichen Sie manchmal Ihre Kindheit mit jener der Kinder von heute?

Birkhan: Nein, das tue ich nicht. Und zwar deswegen nicht, weil das ein Zeichen der Vergreisung wäre. Auch Walther von der Vogelweide hat sich in einer Strophe der Elegie über den Moral- und Sittenverfall seiner Zeit beklagt und wehmütig auf seine eigene Jugendzeit zurückgeblickt. Schon im Mittelalter hätten die Jungen keinen Sinn mehr für die alten Werte gehabt: „Ouwe wie jaemerliche junge liute tuont.“

Welches Buch können Sie weiterempfehlen?

Birkhan: Von Manfred Draudt das Buch „Eine Engländerin in Wien – Das Kriegstagebuch von Miss Alice Frith“.

Warum dieses Buch?

Birkhan: Es ist die Geschichte einer englischen Gouvernante, die bald nach 1910 nach Wien gekommen ist und dann nach der Flucht der „Herrschaft“ allein bis zum Kriegsende 1945 in einer Wiener Wohnung ausharren musste. Ihre Notizen waren jahrzehntelang verschollen. Das ist eines der Bücher, die ich gerade lese.

 

AUF EINEN BLICK

Helmut Birkhan, langjähriger Ordinarius für Ältere deutsche Sprache und Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien und Universitätsdozent für Keltologie ist seit 1994 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW)

Sein aktuelles Buch „Kindheit in Wien. Weltkriegs- und Nachkriegszeit aus Kindersicht“ ist 2021 im Vitalis Verlag erschienen.