17.10.2024 | EU-Forschungsstrategie

Heinz Faßmann: "Ein Rahmenprogramm light droht“

ÖAW-Präsident Heinz Faßmann hat in der High Level-Group der Europäischen Union an der jüngst präsentierten Zwischenevaluierung des Forschungsrahmenprogramms „Horizon Europe“ mitgearbeitet. Er erklärt die wichtigsten Erkenntnisse und die zentralen Empfehlungen, die der 94-seitige Report der Politik mitgibt.

Heinz Faßmann ist überzeugt: Europa braucht ein neues, besseres Forschungsrahmenprogramm, um den Anschluss an China und die USA nicht zu verlieren. © ÖAW/Daniel Hinterramskogler

EUROPA NICHT MEHR AN DER SPITZE

Wer genau hat die Evaluierung des EU-Forschungsrahmenprogramms „Horizon Europe“ durchgeführt?

Heinz Faßmann: Eine High Level Group der EU, die aus 15 Personen besteht. Diese wurden nach einer öffentlichen Ausschreibung aus 300 Bewerbungen und einem Hearing ausgewählt. Unter der Leitung des ehemaligen portugiesischen Forschungsministers Manuel Heitor wurde die Gruppe wohl bewusst heterogen zusammengesetzt. Ein ausgeglichenes Verhältnis von Männern und Frauen war klar, ebenso eine breite geographische Streuung. Ausgewählt wurden Professoren- und Professorinnen an Hochschulen, aber auch erfahrene Funktionäre wie Georg Schütte, Geschäftsführer der VW-Stiftung, oder Adam Piotrowski, CEO eines börsenotierten High-Tech-Unternehmens in Polen.

Europa fällt zurück und wird von den USA und Asien überholt.

Hat sich die Zusammensetzung bewährt?

Faßmann: Diversität ist fein, aber nicht immer vorteilhaft. Partikularinteressen stehen manchmal im Vordergrund, das große Ganze im Hintergrund. Vielleicht war das aber auch Strategie der Kommission, die Kraft einer solchen Gruppe in einem gewissen Sinn nicht zu groß werden zu lassen.

Viele sehen Europa in Hinblick auf Wissenschaft, Technologien und Intellektualität immer noch an der Spitze. Stimmt dieses Bild noch?
Faßmann:
Selbstbild und Fremdbild weichen leider voneinander ab, Europa ist nicht mehr das, was es einmal war. So ist in den letzten zwei Jahrzehnten der Beitrag der EU zu den weltweiten wissenschaftlichen Veröffentlichungen von rund 26 % im Jahr 2000 auf 18 % im Jahr 2022 gesunken. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die am häufigsten zitiert werden, stammen nicht von Forschenden aus Europa, sondern aus China und den USA. Dasselbe Bild ergibt sich bei den Rankings der Universitäten, der Forschungsquote oder der Zahl der Patentanmeldungen.

Europa fällt zurück?

Faßmann: Ja, Europa fällt zurück und wird von den USA und Asien überholt. Europa investiert zur wenig, insgesamt, und ganz speziell in Forschung und Entwicklung.

Wie fällt die Bilanz des Reports zum Forschungsrahmenprogramm der EU aus?

Faßmann: Die Zahlen sind für uns ein Weckruf. Wir brauchen ein Mehr an Investitionen in Forschung, Technologieentwicklung und Innovationen. Forschung fördert Innovation, Innovation ist essentiell für eine prosperierende Wirtschaft und diese ist essentiell für den sozialen Wohlfahrtsstaat. Wir nennen unseren Report daher auch „Align, Act, Accelerate – Research, Technology and Innovation to boost European competitiveness”.

EUROPA MUSS JETZT HANDELN

Was ist damit gemeint?

Faßmann: Align meint Ausrichtung, die Koordination mit anderen Fonds, aber insbesondere mit den EU-Mitgliedsstaaten. Act heißt sehr deutlich: „Handelt!“. Und Accelerate deutet an, dass wir schneller sein müssen: schneller in der Förderung, aber auch schneller in der Umsetzung von Forschungsergebnissen in konkrete ökonomisch relevante Handlungen.

Das Budget für die ERC-Grants sollte verdoppelt werden.

Welche inhaltlichen Empfehlungen stecken hinter diesen Schlagworten?

Faßmann: Der Bericht umfasst 12 Empfehlungen und ist 94 Seiten lang. Wir haben bei der zukünftigen Ausrichtung des Rahmenprogramms in vier „Sphären“ gedacht, die im Unterschied zu den derzeitigen „Säulen“ nicht voneinander abgeschottet sind. Der erste Bereich umfasst die Exzellenz. Die exzellente Grundlagenforschung und die Vergabe der Grants durch den European Research Council (ERC) als europäische Forschungsförderung haben sich sehr bewährt, die zukünftigen Budgets dafür sollten verdoppelt werden, auch um die niedrige Genehmigungsquote anzuheben. Für den European Innovation Council (EIC), der sich ebenfalls sehr bewährt hat, sollte es auch eine deutliche Budgeterhöhung geben, um die ausgesprochen niedrigen Genehmigungsquoten zu steigern und es sollte verstärkt Venture Capital aktiviert werden.

WETTBEWERBSFÄHIGKEIT STEIGERN

Geht es hier um die Wettbewerbsfähigkeit der EU?

Faßmann: Ja, und diese betrifft auch unsere zweite „Sphäre“. Die Hälfte des Budgets von Horizon Europe kommt der Industrie zugute, und das sind ausgesprochen zielführende Investitionen. Wir bekennen uns zur industriellen Forschung, mahnen eine Steigerung der Förderung ein, bestätigen die zentralen Instrumente wie Partnerschaften und kollaborative Projekte, kritisieren aber die Themensetzung. Diese ist zu sehr top-down, zu stark kommissionsgetrieben, zu sehr politisiert. Aus diesem Grund schlagen wir die Einrichtung eines „Europäischen Rates für Technologie und industrielle Wettbewerbsfähigkeit (ETIC2)“ vor, der politisch unabhängig ist, dem ERC nachempfunden wird und der sich aus anerkannten Expert:innen und industriellen Praktiker:innen zusammensetzt. Der Rat soll und muss die Kommission bei der Themensetzung und der konkreten Umsetzung von Förderprogrammen beraten und die Sicht von außen einbringen. Wir brauchen in dem Bereich eine verbesserte Erdung, eine größere Distanz zur Kommission, keine verschwommene Lobbyarbeit, sondern eine transparente Beratungsstruktur.

Wir schlagen die Einrichtung eines „Europäischen Rates für Technologie und industrielle Wettbewerbsfähigkeit“ vor, der politisch unabhängig ist.

Worum geht es in der dritten „Sphäre“?

Faßmann: Da geht es um gesellschaftliche Herausforderungen. Diese sind im aktuellen Horizon-Programm mit der industriellen Forschung vermischt. Wir halten das nicht für zielführend. Wir stehen vor so vielen gesellschaftlichen Herausforderungen und wir brauchen Forschung, damit unterschiedliche politische Optionen entwickelt werden. Die Alterung der Gesellschaft, die steigenden Kosten für Pflege und Gesundheit, der Fachkräftemangel, die Asylproblematik, die Bewältigung des Klimawandels, der Umbau der Energiesysteme und vieles andere mehr harren vernünftiger politischer Lösungen. Forschung ist notwendig, um zielorientiert und rational Herausforderungen zu lösen. Die angesprochenen Themen sollte man nicht den interessensgeleiteten NGOs überlassen, sondern die Forschung ist aufgerufen, wissenschaftliche Grundlagen für politische Entscheidungen zu erarbeiten.

Um welche konkreten Themen geht es?

Faßmann: Das kann heute noch nicht abgeschätzt werden. Wir schlagen daher abermals die Einrichtung eines European Societal Challenges Council (ESC2) vor, der sich aus Expert:innen und Praktiker:innen zusammensetzt. Dieser Council soll über die sich ändernden gesellschaftlichen Herausforderungen beraten, sich mit der Programmdurchführung befassen und die Ergebnisse monitoren. Und die Dinge ergänzen sich: Wenn wir gut abgeklärte Maßnahmen beispielsweise zur Bewältigung des Fachkräftemangels haben, unterstützen wir die Wettbewerbsfähigkeit.

MITGLIEDSSTAATEN MÜSSEN ZUSAMMENARBEITEN

Wie kommen die Mitgliedsstaaten ins Spiel – Stichwort „Align“?

Faßmann: Da sind wir bei der vierten „Sphäre“ angelangt, einem attraktiven und inklusiven Forschungs- und Innovationssystem in Europa. Die Mitgliedstaaten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Europa wird nur dann seine Wettbewerbsfähigkeit wieder verbessern, wenn die Mitgliedstaaten nicht nur die Hände öffnen und auf die Förderung aus Brüssel warten, sondern selbst Reformen und Ressourcen ansetzen. Wesentlich wäre auch eine bessere Verteilung der teuren Forschungsinfrastruktur – wie Hochleistungsrechner, Satellitenstationen, Radioteleskope –, die immer auch Kristallisationskerne von weiteren Forschungseinrichtungen sind. Wir sprechen uns für eine Stärkung der Universitätsallianzen aus, und wichtig wäre es, jährlich zu überprüfen, ob die Staaten die gemeinsamen Forschungsziele einhalten.

Der Report fordert Mittel von 220 Milliarden Euro.

Gibt es weitere Empfehlungen?
Faßmann: Eingemahnt und gefordert werden noch weitere Punkte, zum Beispiel die Schaffung einer experimentellen Einheit zur Entwicklung neuer Prüf- und Vergabemechanismen, die sich damit befasst, wie man KI-geschriebene Proposals überprüft; die Frage, wie man Forschungsgelder vergibt, die nicht nur Mainstream sind und ob man die US-amerikanische Advanced Research Project Agency auf europäischer Ebene installieren kann. Eine andere Forderung befasst sich etwa mit der radikalen Vereinfachung und das heißt: Eliminierung von leistungsschwachen Programmen, andere Verrechnungsmethoden und breitere Ausschreibungen.

Mit welchem Budget wird für ein neues Rahmenprogramm gerechnet?

Faßmann: Das Programm läuft von 2028 bis 2034. Der Report fordert dafür Mittel von 220 Milliarden Euro. Damit unterscheidet er sich nicht wesentlich von den Vorschlägen anderer Stakeholder.

RAHMENPROGRAMM AM ENDE?

Es gibt Gerüchte, dass es das Rahmenprogramm in der derzeitigen Form gar nicht mehr geben soll – was ist davon zu halten?

Faßmann: Im sogenannten „Mission Letter“ von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an die designierte Kommissarin Ekaterina Zaharieva, deren Portfolio Startups, Research and Innovation umfasst, wurde das 10. Rahmenprogramm zur allgemeinen großen Überraschung nicht erwähnt. Es werden zwar Elemente des derzeitigen Rahmenprogramms angeführt, die offensichtlich auch weitergeführt werden sollen, wie der ERC oder der EIC. Der geschlossene Rahmen mit den weiteren Initiativen fehlt jedoch.

Ich würde das Verschwinden des Rahmenprogramms bedauern. Es ist eine europäische Trademark.

Was bedeutet das?

Faßmann: Ein „Rahmenprogramm light“ droht. Ich würde das Verschwinden des klassischen Rahmenprogramms sehr bedauern. So wie das Erasmusprogramm bei der studentischen Mobilität, so sind die Rahmenprogramme für Forschung und Innovation zu einer europäischen Trademark, zu einem Aushängeschild der europäischen Forschungsförderung geworden. Noch ist alles ist im Fluss, aber Wachsamkeit ist geboten.

 

AUF EINEN BLICK

Heinz Faßmann ist seit 2022 Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Zuvor war er u.a Vizerektor der Universität Wien und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

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