Weltweit kämpfen Frauen für ihre gleichberechtigte Vertretung in den politischen Machtzentren. Im österreichischen Nationalrat, der am 29. September 2024 neu gewählt wird, liegt sie derzeit bei 40 Prozent. Aber was bedeutet gleichberechtigte Vertretung in Parlamenten eigentlich? Wie steht es um den politischen Einfluss von Frauen - und reicht es aus, Quoten zu erfüllen?
Im Rahmen des diesjährigen Young Academy Science Day der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beleuchtet die Historikerin Anaïs Angelo, Mitglied der Jungen Akademie und Elise Richter Fellow an der Universität Wien, die Rolle von Frauen in Parlamenten aus einer postkolonialen Perspektive. Angelo zeigt auf, wie Frauen historisch in eine enge Kategorie gezwängt wurden - oft als Minderheit, die nur für so genannte Frauenthemen zuständig ist. Im Interview erklärt sie, wie sich Frauen nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren in vielen afrikanischen Ländern politisch neu organisiert haben und warum Gleichberechtigung mehr als nur Sichtbarkeit erfordert.
Frauenanteil in Parlamenten weltweit
Frauen sind in den parlamentarischen Institutionen immer noch stark unterrepräsentiert: Amerika steht an erster Stelle (34,6 Prozent), gefolgt von Europa (31,0 Prozent) und Afrika südlich der Sahara (27,8 Prozent), Asien (21,3 Prozent), dem Pazifik (22,8 Prozent) sowie dem Nahen Osten und Nordafrika (16,3 Prozent). Wie viele Frauen sind genug?
Angelo: In der Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit wird viel über Quoten und die Präsenz von Frauen in politischen Ämtern gesprochen. Quotenpolitik hat seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen, weil sie als ein Indikator dafür gesehen wird, wie ernst es um die Repräsentation von Frauen steht. Doch eine entscheidende Frage bleibt oft unbeantwortet: Wie viele Frauen sind genug für was? Wofür steht diese Repräsentation? Dafür, dass Frauen sich in den Parlamenten für Frauenrechte stark machen? Meine Arbeit versucht, diese Frage zu klären.
Das Parlament ist der Ort, an dem Gesetze verfasst werden, die das Leben aller Bürger:inn regulieren.
In Ihrem Vortrag beim Young Science Day geben Sie postkoloniale Einblicke in die Geschichte der Frauen in Parlamenten – das Herzstück jeder Demokratie und ein Ort des Sprechens.
Angelo: Das Parlament ist der Ort, an dem Gesetze verfasst werden, die das Leben aller Bürger:inn regulieren. Diese wichtige demokratische Institution sollte die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln, um fairere und gerechtere Entscheidungen treffen zu können. Zudem ist es der einzige Ort, an dem Frauenrechte sichtbar gemacht und geschützt werden können. Im Parlament können sich Frauen in den politischen Diskurs einbringen, Argumente austauschen und die Gründe für ihre politischen Entscheidungen offenlegen. Hier müssen Politiker:innen Rede und Antwort stehen.
Mehr als Frauenrechte
Es geht also nicht nur um Frauenrechte?
Angelo: Wenn wir über Rechte sprechen, beziehen wir uns auf verschiedene Dimensionen, einschließlich politischer Rechte, wie das Recht auf Repräsentation, wirtschaftlicher Rechte, wie das Recht auf Eigentum und ein angemessenes Einkommen, sowie sozialer Rechte, die beispielsweise Elternkarenz und Gleichstellung am Arbeitsplatz umfassen. Diese Rechte sind in vielen Ländern, wie etwa Österreich, selbstverständlich, haben aber in vielen afrikanischen Ländern eine komplizierte Geschichte und sind oft noch nicht vollständig umgesetzt.
Wie haben sich Frauen nach der Unabhängigkeit in den 1960er-Jahren in vielen afrikanischen Ländern politisch reorganisiert?
Angelo: Während der Unabhängigkeitsbewegungen kämpften viele Frauen in Afrika um ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte. In den 1960ern glaubten sie, dass ihre Beiträge im Kampf gegen die Kolonisation anerkannt werden würden. Doch oft geschah das Gegenteil: Ihre Forderungen wurden ignoriert. Stattdessen wurden Frauen in eine Kategorie eingeteilt, die besagt: Frauen kämpfen nur für Frauen. Diese Sichtweise ist nicht nur einschränkend, sondern sie führt auch zu einer Normalisierung der Annahme, dass Frauen nur für bestimmte Themen, sogenannte Frauenprobleme, zuständig sind. In den 1970er Jahren wird diese Kategorisierung mit der UN internationalisiert, also auch in den afrikanischen Ländern institutionalisiert.
Frauen werden als „Minderheit“ kategorisiert und das hat tiefgreifende Auswirkungen auf die politische Teilhabe von Frauen.
Warum wurden Frauen so kategorisiert und was verlieren sie damit?
Angelo: Frauen werden als „Minderheit“ kategorisiert und das hat tiefgreifende Auswirkungen auf die politische Teilhabe von Frauen. Es sind zwei Phänomenen gleichzeitig: Eine Inklusion, weil sie als Kategorie Frau aufgenommen werden. Und eine Exklusion, weil sie als Minderheit vorgestellt werden. Das führt dazu, dass sie als Vertreterinnen nur für Frauenfragen wahrgenommen werden, während Männer die Verantwortung für alle anderen Bereiche tragen. Das schränkt die politische Einflussnahme von Frauen erheblich ein. Wenn sie in den Augen der Gesellschaft als Minderheit gelten, wird es für sie schwieriger, ihre politischen Ideen und Visionen zu äußern.
Kampf um Sichtbarkeit
Anders ist es in der ostafrikanischen Republik Ruanda, 61 Prozent der Abgeordneten Frauen sind. Dennoch gibt es dort viel Kritik an mangelnden Freiheitsrechten.
Angelo: In Ruanda gibt es eine Quotenregelung, weshalb der Frauenanteil seit 2003 immer über 30 Prozent lag. Dass es aktuell sogar 61 Prozent sind, hat auch mit dem Genozid 1994 zu tun, der bis zu einer Million Menschen das Leben kostete, darunter viele Männer.
Bleibt die Frage: Wie viele Frauen sind genug?
Angelo: Genau. Der Frauenanteil im österreichischen Parlament liegt derzeit bei 40 Prozent, das heißt noch immer 60 Prozent Männer. Aber werden Frauen mit all ihren politischen, sozialen und ökonomischen Recht gut genug repräsentiert? Politik heißt, um Ideen und Positionen zu kämpfen. Und ich glaube nicht, dass man die Frage der Repräsentation auf Zahlen reduzieren kann.
Es ist ein Kampf um Sichtbarkeit. Aber welche Freiräume bietet Sichtbarkeit, um Politik zu beeinflussen? Sichtbarkeit heißt nicht mehr Macht. Die Sichtbarkeit heißt einfach Sichtbarkeit und nicht Zugang zu Ressourcen.