Eine feindliche Einstellung gegenüber dem Judentum, ist ein weiterhin ungelöstes gesellschaftliches Problem. Die Ursachen, Auswirkungen und Erscheinungsformen des gegenwartsbezogenen Antisemitismus sind bisher noch wenig erforscht.
Die Antisemitismusforscherin Helga Embacher von der Paris-Lodron-Universität Salzburg leitet gemeinsam mit der Historikerin Alexandra Preitschopf die Bestandsaufnahme über den aktuellen Stand der Antisemitismusforschung für den neuen Antisemitismus-Forschungsschwerpunkt der ÖAW.
Warum ist Antisemitismus heute am 8. Mai 2023, also 78 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, eigentlich noch ein Thema?
Helga Embacher: Antisemitismus war immer ein Thema. Die Menschen sind jahrzehntelang mit Antisemitismus sozialisiert worden und es wäre naiv zu glauben, dass dieser plötzlich mit dem Tag der Befreiung verschwinden würde. Allerdings hat Antisemitismus seine Funktion als nicht politische Ideologie verloren und offener Antisemitismus musste so weit wie möglich tabuisiert werden. Das ist in Österreich nicht immer gelungen. Es gibt seit 1945 immer wieder zu bestimmten Zeitpunkten Manifestationen davon.
Zum Beispiel?
Embacher: Unmittelbar nach 1945 gegen jüdische Remigrant:innen und jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa und von Beginn der 50er-Jahre bis Anfang der 60er-Jahre im Kontext der „Wiedergutmachungsverhandlungen“. Ebenso in den 80er Jahren im Zuge der Waldheimaffäre oder in den 90er-Jahren während des Aufstiegs der FPÖ und deren ersten Regierungsbeteiligung hat es immer wieder massiven Antisemitismus gegeben. Er wurde tradiert und hat sich an neue politische Verhältnisse angepasst und wurde auch immer wieder politisch instrumentalisiert.
Wie sieht es heute aus?
Embacher: Zu Beginns des 21. Jahrhunderts gab es einen Transfer durch Eskalationen im Nahen Osten. Vor allem in Frankreich kam es zu Übergriffen von Muslimen mit Wurzeln im Maghreb auf einzelne Juden. Für manche Muslim:innen stellen diese quasi Israel und damit den Aggressor dar, während sie sich selbst als Opfer der Islamfeindlichkeit betrachten und mit den Palästinensern identifizieren. Damit wird zum ersten Mal sehr intensiv über Antisemitismus in muslimischen Communities diskutiert.
Wie sieht diese Situation in Österreich aus?
Embacher: In Österreich richtete sich der Blick erst ab 2014 verstärkt auf einen „muslimischen Antisemitismus“. Im Kontext des Gazakrieges von 2014 hat sich die türkische Community zum ersten Mal in einem größeren Ausmaß für Palästina mobilisieren lassen, wobei es zu antisemitischen Manifestationen gekommen ist. Türkischer Nationalismus vermischte sich mit islamistischen Versatzstücken und Antisemitismus zu einem gefährlichen Gebräu. Im Zuge der Flüchtlingsankunft 2015 war der muslimische Antisemitismus erneut ein Thema, da viele der Geflüchteten aus arabischen bzw. muslimischen Ländern stammten. Antisemitismus unter Muslimen wurde dabei auch zur Entlastung des „eigenen Antisemitismus“ instrumentalisiert.
Wie lässt sich der muslimische Antisemitismus konkret erklären?
Embacher: Antisemitismus in muslimischen Communities stellt sicher eines der großen Forschungsdesiderata dar, zumal es sich dabei um ein sehr komplexes Problem handelt. Die Communities sind sehr heterogen und es wird in der politischen Debatte und manchmal auch in der Forschung nicht darauf geachtet, dass ein Großteil bereits in Österreich geboren und sozialisiert wurde und es sich bei den Geflüchteten auch um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Zu wenig wissen wir auch über den Einfluss der Religion. Vor allem in Ländern mit einer kolonialen Vergangenheit ist zudem eine starke Konkurrenz zwischen dem Holocaust und kolonialen Verbrechen zu beobachten, womit unter Umstände eine Relativierung des Holocaust erfolgen kann.
Corona-Krise befeuerte Antisemitismus
Welche zentralen Themen gibt es heute in Österreich in punkto Antisemitismus?
Embacher: Die zentralen Themen sind in Österreich, aber auch international, dass mit Corona wieder verstärkt Holocaustverzerrungen aufgetaucht sind. Zum Beispiel, dass Menschen sich einen Judenstern angesteckt oder mit Anne Frank verglichen haben und somit die nationalsozialistische Verfolgung mit einem Lockdown vergleichen.
Mit Corona sind wieder verstärkt Holocausverzerrungen aufgetaucht. Zum Beispiel, dass Menschen sich mit Anne Frank verglichen haben und somit die nationalsozialistische Verfolgung mit einem Lockdown vergleichen.
Verschwörungsmythen in Umlauf gebracht
Und gleichzeitig sind antisemitische Verschwörungserzählungen sehr stark verbreitet worden. Das begann mit der Flüchtlingskrise und ging stark von Ungarn aus, wo Seitens der dortigen Regierung behauptet wurde, dass der Holocaust-Überlebende George Soros mit „viel Kapitalmacht“ muslimische Flüchtlinge nach Europa bringen würde, um das christliche Europa zu zerstören und somit einen Bevölkerungsaustausch herbeizuführen. Soros ist mittlerweile zu einem Code für die jüdische Weltverschwörung geworden. Ein zentrales Problem hierbei sind auch die sozialen Medien, die viele Verschwörungserzählungen und Fake News verbreiten. Hier ist neue Forschung sehr gefragt.
Gibt es Best Practice Beispiele bei der Bekämpfung von Antisemitismus?
Embacher: Viele Wissenschaftler:innen glauben, dass Antisemitismus nie vollständig bekämpft werden kann, aber man kann ihn reduzieren. Hier ist meiner Meinung nach sehr stark bei der Bildung anzusetzen. Ein gutes Projekt ist erinnern.at, da gibt beispielsweise Seminare zur Holocaustvermittlung für Lehrer:innen in Yad Vashem.
Das große Problem, dass ich momentan sehe, ist dass es mittlerweile viel Forschung gibt, die Wissenschaftler:innen sich aber schwertun, breitere gesellschaftliche Schichten zu erreichen.
Man muss Antisemitismus vor allem erkennen können. Dafür benötigt man Wissen über das Judentum, die Geschichte des Judentums und die gegenwärtigen, sehr heterogenen Gemeinden in Österreich und Europa. Es gibt vor allem wenig konkretes Wissen über den sehr komplexen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, was aber wichtig wäre, um israelbezogenen Antisemitismus erkennen zu können.
Was kann jeder Einzelne tun?
Embacher: Man soll auftreten, wenn man Antisemitismus am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit wahrnimmt. Man soll Stellung beziehen und das Problem ansprechen.