22.02.2023 | Georgij Ėfron

Der Teenager, der sich mit Stalin anlegte

Die Tagebücher von Georgij Ėfron, dem Sohn der russischen Dichterin Marina Zwetajewa, werfen einen kritischen Blick auf die Stalin-Ära. Die ÖAW-Literaturhistorikerin Gertraud Marinelli-König erklärt im Gespräch, was das Faszinierende an der Person Ėfrons ist und welche Herausforderungen sich bei der Übersetzeung ins Deutsche aufgetan haben.

Moskauer Tagebücher eines in Frankreich aufgewachsenen Teenagers. © AdobeStock

Mitten im Moskau der 1940er Jahre Kritik am stalinistischen Russland üben? Das darf zumindest als mutig bezeichnet werden. Georgij Ėfron, Sohn der Dichterin Marina Zwetajewa, tat in seinen Tagebüchern allerdings genau das. Der in Frankreich aufgewachsene Teenager fertigte zwischen April 1940 und August 1943 Beobachtungen seiner Zeit an, die nach ihrer Veröffentlichung Jahrzehnte später nicht nur ein einzigartiges historisches Zeugnis darstellen, sondern auch von hoher literarischer Qualität sind.

Dafür, dass die zweibändige Ausgabe der Tagebücher nun auch in deutscher Übersetzung vorliegen, zeichnete Gertraud Marinelli-König verantwortlich, Literaturhistorikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte. Sie erstellte in jahrelanger Arbeit eine wissenschaftliche Edition dieser Tagebücher. Im Interview macht sie aus ihrem Respekt gegenüber Georgij Ėfron kein Hehl: „Für russische Verhältnisse ist seine Offenheit erstaunlich. In der Stalin-Ära hatten die Menschen Angst, niemand hätte seinem Tagebuch die Wahrheit anvertraut“. Und selbst im 21. Jahrhundert sorgten seine Aussagen in Russland noch für Aufsehen, wie Marinelli-König schildert.

Faszinierender junger Mann

Wie sind Sie auf die Tagebücher von Georgij Ėfron gestoßen?

Gertraud Marinelli-König: Sie sind 2004 in Moskau erschienen, ich habe sie um 2010 gekauft, und war fasziniert von dem, was dieser junge Mann da beschrieben hat. Damals habe ich mir vorgenommen, sollte ich einmal Zeit haben, dann muss ich diese beiden Bände übersetzen. Es war eine unglaubliche Herausforderung, an der ich fünf Jahre gearbeitet habe. Eigentlich ist ein Tagebuch eines 15- bis 18-Jährigen kein wissenschaftliches Werk. Aber er hatte ein großes Interesse für das Kriegsgeschehen, war sehr wach und klug, hat viel gelesen und reflektiert. All die geschichtlichen Bezüge sind dann in den Anmerkungsapparat gewandert.

Er war aufgeweckt und kritisch, notierte in seinen Tagebüchern alles sehr direkt, auch wie überfordert er mit dieser neuen Umgebung ist."

Wie wurden die Tagebücher 2004 in Russland von der Kritik aufgenommen?

Marinelli-König: Es wurde viel über die Brisanz seiner Texte gesprochen.  Der Held ist ein sogenannter Rückkehrer. Georgij Ėfron wurde 1925 in der Nähe von Prag geboren und wuchs in Paris zweisprachig auf. Er hat gedacht wie ein Franzose. Als er nach Moskau kam, beschrieb er das stalinistische Russland mit den Augen eines französischen Teenagers. Er war aufgeweckt und kritisch, notierte in seinen Tagebüchern alles sehr direkt, auch wie überfordert er mit dieser neuen Umgebung ist. Für russische Verhältnisse ist seine Offenheit erstaunlich. In der Stalin-Ära hatten die Menschen Angst, niemand hätte seinem Tagebuch die Wahrheit anvertraut.

Haben Sie konkrete Beispiele?

Marinelli-König: Sein Vater und seine Schwester waren verhaftet, er macht sich Gedanken, warum sie inhaftiert wurden. Das stalinistische Repressionsregime hat den Angehörigen nicht bekannt gegeben, wofür ihre Familienmitglieder angeklagt wurden. Im Gefängnis gelandet, wurden sie entweder in Straflager deportiert oder sind verschwunden, was bedeutete, dass sie liquidiert wurden. Darüber hat man sich damals nicht zu schreiben getraut. Aber Ėfron reflektiert ständig darüber. Zugleich wird viel Alltägliches dokumentiert, etwa, was es in Kriegszeiten auf dem Markt von Taschkent zu kaufen gab.

An der Front gefallen

Er ist sehr jung gestorben, woran eigentlich?

Marinelli-König: Er musste zum Militär und ist beim ersten Einsatz an der Front in Weißrussland gefallen. Er wurde verwundet, der Transport zum Lazarett ist aber nie angekommen. Er wurde vermisst, man nimmt an, dass es einen Luftangriff gegeben hat, der den Krankentransport getroffen hat. Er wollte partout nicht zum Militär, in Taschkent hat er 1943 bereits den Einberufungsbefehl bekommen, aber der sowjetische Schriftstellerverband hat sich für ihn eingesetzt. Er wurde mehrmals zurückgestellt. Er hat das Militär zeitlebens kritisch beobachtet. Auf einer langen Zugreise von Moskau nach Taschkent sah er an den Bahnstationen, wie miserabel der Zustand des Militärs gewesen ist. Das war ein absolutes Tabu, aber auch das hat er in seinen Tagebüchern beschrieben.

Vieles was er an Russland kritisiert, wurde auch 2004 von offizieller Seite nicht gern gehört."

Warum sind sie erst 2004 erschienen?

Marinelli-König: 1989 wurden die Archive geöffnet, man hat viel an Material wiederentdeckt. Aber ich denke, es war auch für die russischen Herausgeber eine immense Arbeit.  Ein Fünftel des Textes wurde auf Französisch geschrieben, Ėfron war ja zweisprachig. Die beiden Bände umfassen gut 1.300 Seiten, vieles was er an Russland kritisiert, wurde auch 2004 von offizieller Seite nicht gern gehört. 

 

Auf einen Blick

Die Präsentation der beiden im Hollitzer Verlag erschienen Tagebuch-Bände findet am 2. März 2023 statt.

Weitere Informationen

Georgij Ėfron: Tagebücher (Hollitzer Verlag)