02.01.2023

Berge zwischen Natur und Kultur

Gebirge unterliegen nicht nur dem Einfluss ökologischer Prozesse sondern werden auch von menschlichen Eingriffen geprägt. Wie sich Berge auf dieser Basis multidisziplinär untersuchen lassen, schildert der Fulbright Scholar Fausto Sarmiento, der mit ÖAW-Gebirgsforscher:innen zusammenarbeitet.

© Unsplash/Joshua Earle

Gebirge sind mehr als geologische Formationen - sie sind zugleich Lebensräume, die seit Jahrtausenden von Menschen bewohnt und beeinflusst werden. Von diesem Standpunkt aus nähert sich die moderne Gebirgsforschung wie sie etwa am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) betrieben wird, ihrem Untersuchungsgegenstand in möglichst multidisziplinärer Weise. Als prominenten Gast durfte das Institut kürzlich auch den Gebirgsforscher und Fulbright Global Scholar Fausto Sarmiento von der University of Georgia begrüßen. Sarmiento arbeitet derzeit an der Schaffung eines internationalen, transdisziplinären Instituts für Gebirgsforschung. Im Interview spricht er über das koloniale Erbe der Gebirgsforschung und neue Ansätze, die auch indigenes Wissen berücksichtigen.

Berge sind nicht nur Ökosysteme, sondern auch sozioökonomische Systeme"

Was macht transdisziplinäre Gebirgsforschung aus?
Transdisziplinäre Gebirgsforschung, im Englischen auch Montology genannt, ist eine konvergente, verbindende Wissenschaft. Wir haben in Zusammenhang mit Bergen zum Beispiel lange Zeit nur über eine Art von Klima gesprochen. Neben dem meteorologischen Klima gibt es aber auch politische, religiöse und soziale Klimas, die wichtig für einen Lebensraum sind. Berge sind nicht nur Ökosysteme, sondern auch sozioökonomische Systeme, die sich an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen und sich weiterentwickeln. Das sieht man etwa in Tirol gut, wo ähnlich wie im Himalaya, den Anden oder den Appalachen eine wunderbare, von den Bergen geprägte Kultur entstanden ist, die immer noch blüht.

Das heißt, es geht nicht nur um eine naturwissenschaftliche Betrachtung?
Wichtig ist, nicht nur die westlich geprägte Sichtweise zu berücksichtigen, sondern auch Wissen aus östlichen Betrachtungsweisen und die Erfahrungen des globalen Südens. In der buddhistischen Tradition und im Shinto-Glauben in Japan zum Beispiel gelten viele Berge als heilige Stätten. Das sorgt für einen ganz anderen Blick auf den Lebensraum. Auch in den Anden werden den Gebirgslandschaften philosophische und spirituelle Facetten zugeordnet.

Gebirge als Natur- und Kulturlandschaft

Das heißt, Mensch und Natur bilden ein gemeinsames System?
Die Páramo- und Puna-Grasländer in den Anden galten lange als ursprüngliche Naturlandschaft. Heute wissen wir, dass Menschen und die Megafauna, mit der sie in Wechselwirkung lebten, diese Landschaft seit Jahrtausenden beeinflusst haben. Es ist eine Kulturlandschaft, die immer für Tierhaltung und Ackerbau genutzt wurde. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert wurde das Ökosystem durch Rodung und Herdenhaltung in seiner heutigen Form konserviert.

Das gilt auch für moderne Siedlungen?
Wir beschäftigen uns auch mit Städten, die in Bergregionen existieren, und ihren Auswirkungen auf die Ökosysteme. Viele moderne Städte liegen im Flachland, oft in der Nähe von Häfen. Das war aber nicht immer so. Im Himalaya und in Nord- und Südamerika gab es vor den ersten europäischen Städten schon urbane Agglomerationen in beträchtlichen Höhenlagen. Tenochtitlan, das heutige Mexiko City, ist ein Beispiel, das sich bis heute erhalten hat, auf etwa 2.240 Metern Seehöhe. Auch in vielen Mythen hat sich das Bild von glorreichen Bergstädten erhalten, zum Beispiel in der Geschichte von Shangri-La im Himalaya. Das ist Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Wir erforschen auch, wie eine Befestigungsanlage wie Machu Pichu so hoch in den Bergen überhaupt überleben konnte. Aus heutiger Sicht ist schwer zu sehen, wie das im 15. Jahrhundert machbar war.

Heute werden Berge ganz anders genutzt als früher, durch den Tourismus und Extremsport."

Sie haben gesagt, dass Berge oft heilige Orte sind. Welche Bedeutung hat das heute?
Es gibt von der UNESCO einen Überblick über heilige Stätten in den Gebirgen der Welt. Das ist aus heutiger Sicht wichtig, weil diese Perspektive bei unseren Bestrebungen nach dem Schutz dieser Regionen oft keine Rolle spielt. Heute werden Berge ganz anders genutzt als früher, durch den Tourismus und Extremsport. Da werden oft gedankenlos heilige Stätten entweiht, das Potenzial für Konflikte mit der lokalen Bevölkerung nimmt also tendenziell zu.

Was können wir durch eine ganzheitliche Betrachtung lernen?
Menschen modifizieren die Natur schon so lange, dass es oft schwer ist, den Unterschied zwischen Natur- und Kulturlandschaft zu erkennen. Der Regenwald, eines der Symbole für unberührte Natur, ist nicht frei von menschlichem Einfluss. Terra preta, ein alter organischer Dünger der indigenen Bevölkerung auf Kompostbasis, hat die Dschungellandschaft fruchtbar gemacht und damit stark geprägt. Als die ersten Europäer ankamen, gab es im Amazonasbecken schon diverse städtische Siedlungen. Das heutige Aussehen des Regenwalds ist auch eine Folge dieser lange zurückliegenden Landnutzung. Hier passiert in der Forschung derzeit ein Umdenken. Wissenschaftler:innen arbeiten heute zum Beispiel im Gebiet des Chimborazo mit der indigenen Bevölkerung zusammen, um lokales Wissen und ökologische Vermächtnisse zu dokumentieren. Hier entstehen neue Weltkulturerbestätten in den Bergen, deren erste der Tongariro Nationalpark in Neuseeland war.

Renaissance von indigenem Wissen

Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist also oft nur konstruiert?
Der Unterschied wurde von einer dominanten, reduktionistischen Strömung geschaffen, die kolonial geprägt war und sich nie um lokales Wissen gekümmert hat. Mittlerweile erfindet sich die indigene Bevölkerung aber neu und definiert eine eigene Identität. In Australien und anderen Ländern werden Berge zum Beispiel zunehmend wieder mit ihren Namen in den lokalen Sprachen benannt. Ganzheitliches, indigenes Wissen erlebt derzeit eine Renaissance.

 

Auf einen Blick

Der Gebirgsforscher Fausto Sarmiento von der University of Georgia wurde mit dem prestigeträchtigen Fulbright Global Scholar Award ausgezeichnet, der internationale Forschungsprojekte von US-Akademikern unterstützt. Im Rahmen der Arbeiten an einem neuen internationalen Forschungsinstitut besuchte er auch das Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung (IGF) der ÖAW in Innsbruck.