21.08.2020

ALGORITHMUS ERRECHNET NEUEN BAUPLAN FÜR QUANTEN-SYSTEME

Mithilfe des Computeralgorithmus Melvin entwickelten Quantenforscher der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Wien einen neuen Ansatz, um komplexe Konstellationen aus verschränkten Lichtteilchen zielgerichtet zu manipulieren. Die in der Fachzeitschrift „Physical Review Letters“ veröffentlichte Methode könnte sich als äußerst wertvoll unter anderem bei der Herstellung von Quantencomputern erweisen.

© Klaus Pichler/ÖAW
© Klaus Pichler/ÖAW

Wer Quanteninformation mit Hilfe von Lichtteilchen versenden oder manipulieren will, muss in der Lage sein, komplizierte Ensembles aus in mehreren Dimensionen verschränkten Photonen exakt zu kontrollieren. Das gelingt für vergleichsweise einfache Konstellationen bereits im Labor. Um die Vorteile der Quantentechnologie voll ausschöpfen zu können, müssen die Photonenverbände aber größer und komplexer werden. In einer neuen Publikation in der renommierten Fachzeitschrift „Physical Review Letters“ präsentieren Physiker der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien rund um Anton Zeilinger jetzt einen neuen Ansatz. Dieser erlaubt es, sehr komplexe Systeme aus hochdimensional verschränkten Photonen – beispielsweise Schaltungen, die in einem künftigen Quantencomputer Information verarbeiten könnten – zu konstruieren und exakt zu kontrollieren.

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Algorithmus findet Lösungen

“In einfachen Spezialfällen mit zwei Photonen ist es im Labor bereits möglich, solche Systeme zu kontrollieren. Wir haben mithilfe unseres Computeralgorithmus Melvin eine Verallgemeinerung gefunden, die es erlaubt, auch Konstellationen aus mehreren Photonen zu manipulieren. Unsere Lichtteilchen sind durch unterschiedliche Wellenlängen oder räumliche Struktur in mehreren Dimensionen verschränkt und können so für mehr als ein Bit Information codieren. Dieser neue Ansatz sollte sich in absehbarer Zeit auch im Labor umsetzen lassen, zumindest für Verschränkungen in drei bis vier Dimensionen”, sagt Mario Krenn, einer der Autoren der Publikation, der unter anderem für das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der ÖAW forscht und derzeit an der Universität Toronto arbeitet. 
 
Bemerkenswert am neuen Ansatz der Forscher ist, dass die entscheidenden Schritte von einem Computeralgorithmus gefunden wurden. “Der Algorithmus ist mit den Werkzeugen ausgestattet, die uns Forscher/innen auch im Labor zur Verfügung stehen. Anfangs probiert er auf Basis von bekannten Lösungen für einfachere Systeme einige neue Schritte aus und lernt anhand von Zwischenergebnissen rasch, seine Herangehensweise zu optimieren. So entwickelt der Algorithmus tatsächlich kreative Ansätze für allgemeinere Lösungen“, sagt Krenn. „In unserem Fall waren das zwei Tricks, an die Forscher/innen bisher noch nicht gedacht haben. Im Gegensatz zu klassischen Machine-Learning-Ansätzen lernt hier nicht nur der Computer, sondern vor allem auch der Forschende”, so der Wissenschaftler.

Monatelange Berechnungen

Um Lösungen für die Aufgaben zu finden, die die Forscher/innen stellen, braucht Melvin einiges an Ressourcen. Für die Ergebnisse, die jetzt publiziert wurden, haben 80 Rechenkerne drei Monate lang gerechnet. “Danach hat die eigentliche Arbeit für uns Forscher/innen begonnen. Wir haben es nach und nach geschafft, die Lösungen, die Melvin gefunden hat, zu verstehen und so unser grundsätzliches Verständnis der Manipulation von Vielteilchensystemen erweitert”, sagt Krenn. Das Ergebnis sind gänzlich neue Ansätze für Experimentator/innen.
 
„Im Gegensatz zu klassischen Systemen kollabieren Quantensysteme, wenn eine Messung vorgenommen wird. Für einfache Quantensysteme sind nicht-zerstörerische indirekte Messungen bereits möglich. Melvin hat jetzt eine Möglichkeit gefunden, das auch für komplexere Systeme zu ermöglichen”, sagt Krenn. Das funktioniert, indem die gesamte relevante Information über die Transformation des Photonensystems, das Forscher/innen messen wollen, in zusätzliche Behelfsphotonen verlagert wird. Diese zusätzlichen Lichtteilchen können ausgelesen werden, ohne dass die Verschränkung der Photonen, mit denen die eigentliche Informationsverarbeitung bewältigt wird, zerstört wird.

Erweitertes Verständnis

Derselbe Ansatz erlaubt es, das System zu kontrollieren, ohne dass die Wechselwirkungen, die dabei normalerweise auftreten, das System zerstören. Auch hier wird das System indirekt über Behelfsphotonen beeinflusst. „Melvin hat es geschafft, die gesamte Action in einem Photonensystem, mit dem Information verarbeitet werden kann, in einen komplexen Zustand der Behelfsphotonen auszulagern. Durch die Unterstützung durch den Algorithmus wissen wir jetzt genau, wie und warum das funktioniert“, sagt Krenn. 

Der neue Lösungsansatz gibt zudem klar vor, welche Techniken noch verfeinert werden müssen, um die Ergebnisse auch praktisch im Labor umsetzen zu können. Wenn das funktioniert, könnten sich dadurch neue Möglichkeiten für Quantenkommunikation mit mehr Bandbreite und vor allem für die Konstruktion leistungsfähigerer Quantencomputer ergeben. „Wir hoffen, dass wir in einigen Jahren schon kleinere Systeme, die unsere Ideen aufgreifen, in Labors sehen werden. Theoretisch ist die Komplexität der Systeme, die mit unserem Ansatz erreichbar ist, nicht begrenzt. Allerdings wächst auch die Komplexität der Systeme aus Behelfsphotonen, wenn die Informationsverarbeitung komplexer wird”, sagt Krenn.

 

PUBLIKATION

"Computer-Inspired Concept for High-Dimensional Multipartite Quantum Gates", Xiaoqin Gao, Manuel Erhard, Anton Zeilinger und Mario Krenn, Physical Review Letters, 2020
DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.125.050501

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