05.10.2021 | Neues Buch

Zwischen Widerstand und Kollaboration

Eine mehrbändige Publikation im Verlag der ÖAW widmet sich der Rolle der Wiener Völkerkunde zur NS-Zeit. Die beiden Herausgeber Andre Gingrich und Peter Rohrbacher erzählen im Interview, wie Wissenschaft in den Dienst des Regimes gestellt wurde, aber auch vom Widerstand dagegen.

Die Nazis propagierten den Kolonialismus. Diesem Ziel des Regimes sollte sich auch die Wiener Völkerkunde unterordnen. © Bundesarchiv, Bild 108-232-25 / Doerdrechter / CC-BY-SA 3.0

Als Metropole der Völkerkunde galt Wien vor 1938. Mit dem „Anschluss“ Österreichs durch das sogenannte Dritte Reich wurde die Wiener Völkerkunde grundlegend umgebaut. Die Verstrickungen des Fachs in das NS-Herrschaftssystem werden in einer mehrbändigen Publikation im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) jetzt aus neuen Blickwinkeln beleuchtet.

Die beiden Kultur- und Sozialanthropologen und Herausgeber Andre Gingrich und Peter Rohrbacher widmen sich dabei sowohl dem Ausmaß der Beteiligungen an verbrecherischen Aktivitäten zur NS-Zeit, als auch den Widerstandsaktivitäten von Völkerkundler/innen. 28 Autor/inn/en erzählen in insgesamt 42 Beiträgen auf über 1.700 Seiten nicht nur akademische Fachgeschichte, sondern auch Zeitgeschichte.

Sie widmen sich in drei neuen Bänden dem Verhältnis von Völkerkunde und Nationalsozialismus in Österreich. Welche Aspekte waren Ihnen dabei besonders wichtig?

Andre Gingrich: Sowohl die Seite des Widerstands als auch die Verstrickung der Völkerkunde in die Aktivitäten des NS-Regimes und das Ausmaß der Beteiligungen werden hier beleuchtet. Ebenso finden bislang wenig untersuchte Aspekte Eingang, etwa das Schweizer Exil oder das sogenannte Ahnenerbe der SS. Ausschnittsweise wurden manche Bereiche schon bisher von wichtigen Pionieren der Forschung bearbeitet. Aber in derart umfassender Weise ist es das erste Mal: Nicht nur im Bereich der „Völkerkunde“ – der heutigen Kultur- und Sozialanthropologie -, sondern auch für viele benachbarte geisteswissenschaftliche und historische Fächer insgesamt an der Universität Wien und anderswo in Österreich.

Uns ging es darum die Nuancen zu zeigen, wie Wissenschaft innerhalb des NS-Regimes durchführbar war.

Peter Rohrbacher: Unser Anliegen war es nicht primär herauszufinden, wer war ein Nazi und wer nicht. Uns ging es vielmehr darum, die Nuancen zu zeigen, wie Wissenschaft innerhalb des NS-Regimes durchführbar war. Da sind viele Schattierungen zum Vorschein gekommen. Neue Facetten wurden durch archivalische Quellen ganz neu erschlossen. Und: Wir haben uns nicht nur auf die Völkerkunde beschränkt, sondern auch einzelne Nachbardisziplinen berücksichtigt, etwa die Physische Anthropologie, die Prähistorie und auch die Afrikanistik, Volkskunde und Japanologie.

Sie haben dazu über 100 Archive in zehn Ländern konsultiert. Welche Rolle spielen private Archive?

Rohrbacher: Neben dem systematischen Sichten von öffentlichen Archivbeständen ist der Mehrwert dieser drei Bände, dass wir viele private Archive erschließen konnten. Private Bestände vermitteln die Korrespondenzen und Netzwerke viel authentischer als Behördenarchive. Privat wurde offener berichtet oder erzählt, was vor einer Behörde nicht ausgesprochen werden durfte. Auf diese Weise zeigten sich eine Reihe von Arbeitskonstellationen, die auf den ersten Blick im NS-Wissenschaftsbetrieb unmöglich erscheinen. Und doch hat es derartige Nischenpositionen gegeben.

Wien war vor 1938 eine Metropole der Völkerkunde im deutschsprachigen Raum.

Wie kam es dazu, dass die Wiener Völkerkunde während des NS-Regimes eine so zentrale Rolle spielte?

Gingrich: Wien war vor 1938 eine Metropole der Völkerkunde im deutschsprachigen Raum, über die Missionare sogar weltweit. Hier gab es mehrere wichtige Einrichtungen: das heutige Weltmuseum, damals Museum für Völkerkunde, das Universitätsinstitut, die Missionsschule in Sankt Gabriel bei Mödling, die betreffenden Kommissionen an der Akademie der Wissenschaften und ab 1939 eine eigene Einheit des „Ahnenerbe“ der SS. Das Universitätsinstitut stand bis 1938 in einer Art missions-ethnologischer Tradition und war auch durch die Ordensmänner Wilhelm Schmidt und den Institutsvorstand Wilhelm Koppers von theologischen Grundideen geprägt. Das NS-Regime setzte unmittelbar nach dem „Anschluss“ sehr viel daran, dieses Institut komplett umzukrempeln und neu aufzustellen. Dazu wurden alle älteren Forscherpersönlichkeiten ihrer Lehrmöglichkeiten und ihre Positionen enthoben – mit Ausnahme jener, die am Museum ihre Posten hatten.

Und wer folgte auf die vakant gemachte Professur?

Gingrich: Einer der wenigen ausgewiesenen Afrika-Experten aus Berlin, NSDAP-Mitglied Hermann Baumann, wurde nach Wien berufen. Zusammen mit anderen Akteur/inn/en, insbesondere dem berüchtigten Dekan und Nebenfach-Ethnologen sowie Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Viktor Christian, sollte er den Fokus auf Subsahara-Afrika legen und die damals zu Kriegsbeginn noch wichtigen Kolonialpläne des „Dritten Reichs“ neu ausrichten.

Den deutschen Kolonialismus propagieren und glaubhaft zu machen, dass das Deutsche Reich ein Anrecht auf Kolonien hätte, das war nach 1938 ein Bestreben.

Wien sollte also zum Zentrum der kolonialen Afrikawissenschaften werden?

Rohrbacher: Das war ein Ziel während der NS-Zeit. Den deutschen Kolonialismus propagieren und glaubhaft zu machen, dass das Deutsche Reich ein Anrecht auf Kolonien hätte, das war nach 1938 ein Bestreben. Das zeigte sich etwa durch Ausstellungsaktivitäten des Reichskolonialbunds im Naturhistorischen Museum und in der Hofburg, wo das Institut und das Museum untergebracht waren. Das Museum für Völkerkunde war hier sehr stark involviert. Im Juli 1940 wehte zur Ausstellungseröffnung auf der Hofburg groß die Hakenkreuzflagge und daneben die sogenannte Petersflagge: Das war ein schwarzes Kreuz auf weißem Schild, das Symbol des Deutschen Ritterordens und links daneben war auf rotem Hintergrund das Kreuz des Südens platziert. Mit der Petersflagge erhob man von Wien aus Anspruch auf die südliche Hemisphäre. Karl Peters war der Begründer der Deutschostafrikanischen Gesellschaft 1884, der mit Wien und Österreich überhaupt nichts gemein hatte.

Neben den Institutionen legen Sie den Fokus auf biographische Netzwerke. Können Sie eine Biographie exemplarisch erzählen?

Gingrich: Es gibt mehrere bezeichnende Biographien. Eine betrifft den Großneffen des deutschen Dichters Heinrich Heine, den in Wien tätigen Robert (von) Heine-Geldern. Er hatte sich als Archäologe und historischer Ethnologe Asiens schon lange vor 1938 einen großen Namen erworben. Kurz vor dem „Anschluss“ floh er ins Exil in die USA und kehrte Ende der 1940er-Jahre zurück, um seine Professur hier wieder anzutreten. Der Begriff Südostasien, wie wir ihn heute kennen, wurde durch ihn popularisiert. Bis dahin hat man Kolonialbegriffe wie „Niederländisch-Indien“, „Hinterindien“ oder „Indochina“ verwendet. Das stieß besonders bei den US-Behörden auf positive Resonanz. Wichtig ist auch sein kulturwissenschaftlicher Beitrag zum Kriegsverlauf. Durch seine Tätigkeit als Berater der US-Militärbehörden konnte er bewirken, dass die großen Kulturdenkmäler Südostasiens von Bombardierungen weitgehend verschont geblieben sind.

Die Rolle von Frauen in diesem Teilbereich der damaligen akademischen Landschaft Wiens ist wesentlich. Das wichtigste und prominenteste Opfer unter den Absolventinnen der Völkerkunde war Marianne Schmidl. Sie war eine ausgezeichnete Spezialistin für das subsaharische Afrika.

Rohrbacher: Oder die Biographie von Pater Wilhelm Schmidt, der 1929 anregte das Institut für Völkerkunde zu gründen. Beim „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland wurde er entlassen. Über Rom gelangte er schließlich mit päpstlicher Hilfe in die Schweiz und baute das Anthropos-Institut wieder auf. Bislang war wenig bekannt, was er sonst in den sieben Jahren Exil unternahm. Durch die Briefbestände im Ordensarchiv in Rom wurde deutlich, dass der damals 75-jährige Pater Wilhelm Schmidt dort geflohene österreichische Deserteure der Wehrmacht unterstützte. Er half ihnen eine Nachrichtenorganisation aufzubauen, die im Herbst 1944 dem britischen Militärgeheimdienst überantwortet wurde und Sabotageakte in Westösterreich durchführte, u.a. mit dem militärischen Ziel für Österreich Südtirol zurückzugewinnen. Das Selbstverständnis der Widerstandsgruppe – sie nannte sich Wehrverband Patria – war monarchistisch-militärisch und sie suchte den Kontakt zu Otto von Habsburg. Einer der jungen Teilnehmer war Kurt Schuschnigg, der 17-jährige Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg.

In Ihrer Publikation werden auch die Karriereverläufe mehrerer bedeutender Frauen vorgestellt. Wen würden Sie hier herausgreifen?

Gingrich: Die Rolle von Frauen in diesem Teilbereich der damaligen akademischen Landschaft Wiens ist wesentlich. Das wichtigste und prominenteste Opfer unter den Absolventinnen der Völkerkunde war Marianne Schmidl. Sie war eine ausgezeichnete Spezialistin für das subsaharische Afrika und an der Nationalbibliothek tätig. Nach dem „Anschluss“ hatte sie wegen ihrer jüdischen Herkunft mit zunehmenden Schwierigkeiten bis hin zu ihrer Entlassung zu kämpfen. Sie wurde 1942 in eines der polnischen Lager deportiert und kam auf dem Weg dorthin zu Tode. Marianne Schmidl wurde schlicht umgebracht. Vor wenigen Jahren haben wir ihr vor ihrem Wohnhaus in Wien eine Gedenkplakette widmen können.

Sie erzählen auch sehr gegensätzliche Frauenbiographien.

Gingrich: Etta Becker-Donner kommt aus den Reihen des Widerstands. Sie war mit Hans Becker, dem Mitbegründer der 05, verheiratet und hat im Widerstand eng mit ihm zusammengearbeitet. Viel Neues konnten wir dazu aus den familiären Tagebüchern der Betreffenden ziehen. Etta Becker-Donner wurde eine der führenden Wissenschaftlerinnen des Landes. Als Leiterin des Völkerkundemuseums war sie 1955 die erste Frau an der Spitze eines österreichischen Bundesmuseums.

Und dann gibt es natürlich auch die Biographien der aktiven Befürworterinnen des NS-Betriebes, etwa Erika Sulzmann. Sie war gemeinsam mit Hermann Baumann aus Deutschland nach Wien gekommen und nahm eine aktive Rolle bei der Gängelung der Studierenden ein. In Zusammenarbeit mit französischen und belgischen Kollegen war sie an der Ausarbeitung einer viel diskutierten Kolonialkarte über afrikanische Stämme beteiligt.