16.09.2020 | Fehlinterpretation

Wissenschaft im Wahlkampf

Über selektive Wahrnehmung, falsche Schlüsse und bewusste Verkürzungen: Was tun, wenn wissenschaftliche Fakten in öffentlichen Debatten instrumentalisiert werden? Besonders Studien zu Migration haben oft mit Fehlinterpretationen zu kämpfen.

© Mika Baumeister/Unsplash

Ergebnisse der Grundlagenforschung werden oft zugespitzt und vereinfacht, um auch bei fachfremden Menschen Interesse zu erwecken und zugleich besser verständlich zu erscheinen. Das ist soweit nichts Ungewöhnliches. Werden wissenschaftliche Fakten aber bewusst herausgegriffen, um damit Parteipolitik oder Interessenspolitik zu betreiben, ist eine Instrumentalisierung, Vereinnahmung und Verfälschung von Ergebnissen oft nur mehr schwer abzuwenden. Diese Entwicklung ist insbesondere in Wahlkampfzeiten höchst problematisch. Auch zwei Studien des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zu Migration, Religion und Bevölkerungsentwicklung von 2007 und 2017 wurden kürzlich in rechtpopulistischen Internetportalen fehlinterpretiert, um damit Wahlkampf zu machen.

Im Interview spricht die Demographin Anne Goujon, Erstautorin der beiden Studien, über die selektive Wahrnehmung von Parteien und Interessensgruppen, die sich „jene Erkenntnisse heraussuchen, die am besten zu ihrer Gesamtbotschaft passen“ und darüber, warum man Instrumentalisierung zwar nicht verhindern, aber die Öffentlichkeit in kritischer Meinungsbildung schulen kann.

In zwei Studien – einmal von 2007, einmal von 2017 – haben Sie erhoben, welche Szenarien in Hinblick auf die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung in Österreich und in der Hauptstadt Wien in den kommenden 30 Jahren denkbar wären. Was haben Sie dabei herausgefunden?

Anne Goujon: Unsere Arbeit hatte zwei Ziele. Zum einen die heutige religiöse Landschaft in Österreich abzuschätzen, da es seit 2001 keine umfassenden Statistiken gibt, und zum anderen anhand mehrerer Szenarien zu sehen, wie die Zukunft aussehen könnte. Das Hauptergebnis ist, dass alle Schätzungen auf eine zunehmende religiöse Vielfalt und einen steigenden Anteil der Konfessionslosen in der Bevölkerung hindeuten. Eine stärker säkularisierte und religiös diversifizierte Gesellschaft ist nicht über Nacht entstanden. Sie ist das Ergebnis eines langen Prozesses, der in den 1970er-Jahren begann.

Von welchen Zahlen sind Sie ausgegangen?

Goujon: Wir sind davon ausgegangen, dass im Jahr 2016 der Anteil der Katholiken etwa 64 Prozent (von 75 Prozent im Jahr 2001), jener der Konfessionslosen etwa 17 Prozent  (von 12 Prozent im Jahr 2001) und der der Muslime 8 Prozent (von 4 Prozent im Jahr 2001) betrug. Auch die orthodoxe Gruppe hat erheblich zugenommen, von 2 Prozent im Jahr 2001 auf 5 Prozent im Jahr 2016. Die Prognosen bis 2046 zeigen dann unterschiedliche Szenarien, wie sich dies in der Zukunft entwickeln könnte, abhängig von einer Reihe von verschiedenen Annahmen. Wir betrachten Österreich als Ganzes und Wien im Besonderen, wo die Veränderungen stärker ausgeprägt sind.

Was hat es mit den verschiedenen Szenarien auf sich?

Goujon: In unserer Studie von 2017 haben wir vier alternative Entwicklungen skizziert. Dazu haben wir Szenarien entlang verschiedener Annahmen entwickelt, in denen wir die Anzahl und das Herkunftsland der Migrant/innen sowie die Geburtenrate mit verschiedenen Religionen und dem Grad der Säkularisierung variieren. Auf einer Skala von geschlossenen Grenzen und restriktiver Politik bis hin zu völlig offenen Grenzen und hoher Zuwanderung variieren die vier Migrationsszenarien, darunter zwei Szenarien, die auf den jüngsten Migrationstrends aufbauen. Die Gesamtmigrationszahlen orientieren sich an den Bevölkerungsprognosen der Statistik Austria. Und die religiöse Zusammensetzung der Migrant/innen leiten wir aus der religiösen Verteilung im jeweiligen Herkunftsland ab.

Aspekte der Studienergebnisse wurden von Rechtspopulist/innen aufgegriffen. Was wurde missverstanden?

Goujon: Anstatt die gesamte Palette von Szenarien zu berücksichtigen, benutzten sie eines der vielen Szenarien und suchten sich jene Erkenntnisse heraus, die am besten zu ihrer Gesamtbotschaft passen, d.h. zur so genannten "Islamisierung der österreichischen Gesellschaft". Auch fehlen die wichtigen Nuancen, die in unserer Arbeit dargestellt werden. Zum Beispiel, dass die Geburtenrate meist nicht mit Religion, sondern viel mehr mit Bildung zu tun hat. Das bedeutet: Universitätsgebildete muslimische Frauen haben im Durchschnitt ebenso viele Kinder wie katholische oder evangelische Frauen. Zudem werden auch Religionszugehörigkeit und Religiosität vermischt, was gänzlich unterschiedliche Konzepte sind. Wer einer Religion angehört ist deswegen noch nicht religiös. Insgesamt ist das alles eine sehr einseitige Darstellung einer sorgfältig recherchierten Studie, wie wir sie vorgelegt haben.

Was kann man tun, wenn Studien von Interessensgruppen instrumentalisiert werden?

Goujon: Wir leben glücklicherweise in einer Gesellschaft, in der wissenschaftliche Erkenntnisse meist für alle zugänglich sind – und das ist gut so. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie ich und meine Koautor/innen, aber auch Institutionen wie die ÖAW, haben die Verantwortung, wissenschaftliche Erkenntnisse in einer Form mit der Gesellschaft zu teilen, die es der Öffentlichkeit ermöglicht, eine informierte Entscheidung über die Bedeutung der Forschung treffen zu können. Es ist unser aller Verantwortung, insbesondere wenn man in einer einflussreichen Position ist, auf eine faire und transparente Nutzung der Forschung zu achten. Meiner Meinung nach können wir zwar die Instrumentalisierung nicht verhindern, aber wir müssen schon früh dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit zur kritischen Meinungsbildung fähig ist – das sollte auch in den Schulen bereits in jungen Jahren gefördert werden.

 

AUF EINEN BLICK

Anne Goujon ist Forschungsgruppenleiterin am Institut für Demographie der ÖAW. Aktuell ist sie von der ÖAW beurlaubt und arbeitet für das European Commission Joint Research Centre. Hinweis: Dieses Interview wurde in ihrer früheren Funktion geführt und gibt nicht die Ansichten der Europäischen Kommission wieder.