24.08.2020 | Belarus

Wie geht es in Belarus weiter?

Wolfgang Mueller, Historiker und Mitglied der ÖAW, schildert, wie es um die Perspektiven der Opposition bestellt ist und warum ein Wechsel an der Staatsspitze nicht unwahrscheinlich ist.

© Pixabay.com/Jana Shnipelson
© Pixabay.com/Jana Shnipelson

Die Lage ändert sich täglich: Seit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 tobt in Belarus ein Machtkampf zwischen dem 65-jährigen Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko und der Opposition. Über die Hintergründe und Perspektiven der Proteste spricht Wolfgang Mueller, korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.

Ob die derzeitigen Proteste eine Zäsur herbeiführen, bleibt abzuwarten. Denn, so sagt Historiker Müller: „Je mehr Menschen sich mit der Opposition solidarisieren, desto schwieriger wird es für Lukaschenko werden, an der Spitze des Staates zu bleiben.“

Seit einem Vierteljahrhundert ist in Belarus Alexander Lukaschenko an der Macht. Auch die Wahlen zuvor entsprachen keinen demokratischen Standards. Warum ist diese Wahl jetzt eine Zäsur?

Wolfgang Mueller: Es hat sich in der Gesellschaft in Belarus in den letzten fünf bis zehn Jahren einigermaßen viel verschoben – unbemerkt von außen. Das betrifft erstens die aktuelle wirtschaftliche Krise, in der sich Belarus befindet. Zum zweiten ist es auch dem missglückten Corona-Management der Administration Lukaschenkos geschuldet. Und drittens – ein Faktor, den Langzeitherrscher ungern einkalkulieren – wird die Bevölkerung seiner schon überdrüssig. Ob das alles eine Zäsur herbeiführt, bleibt abzuwarten.

Es gibt eine ganze Reihe von anderen Bereichen, in denen Russland von einer neuen Führung in Belarus durchaus profitieren könnte.

Welche Rolle spielt der russische Präsident bei diesen Protesten? Inwiefern profitiert Putin von Lukaschenkos Schwäche?

Mueller: Eine Schwächung Lukaschenkos oder überhaupt ein Wechsel an der Staatsspitze in Belarus würde die Karten neu mischen, auch für Russland. Bestimmte Reflexe, die sich in den letzten Jahrzehnten im belarusisch-russischen Verhältnis eingeschliffen haben, könnten so umgangen werden. Die Vollendung des Unionsstaates mit der Russländischen Föderation ist unter Präsident Lukaschenko unwahrscheinlich. So hat er bei den verschiedensten Gelegenheiten immer wieder klargemacht, dass er die Unabhängigkeit und die Souveränität Belarus‘ nicht aufgeben werde. Unter einer neuen Führung wird das sicherlich nicht anders sein. Dazu ist die Selbstständigkeit Belarus‘ mittlerweile viel zu stark gefestigt.

Aber: Es gibt eine ganze Reihe von anderen Bereichen, in denen Russland von einer neuen Führung in Belarus durchaus profitieren könnte. Denken wir an die wirtschaftliche Zusammenarbeit oder auch an die militärisch-strategische Zusammenarbeit.

Die Möglichkeiten von außen einzugreifen sind eher begrenzt.

Welche Mittel hat die EU, um der demokratischen Opposition direkt zu helfen und Lukaschenko zum Verzicht auf Gewalt zu zwingen?

Mueller: Die Möglichkeiten von außen einzugreifen sind eher begrenzt. Es hat den Anschein, dass der Rat und auch der Ratsvorsitz sich der Begrenztheit der Mittel rasch bewusstgeworden sind. Die Europäische Union könnte aber neben der Einforderung von Gewaltlosigkeit und eines zivilen Dialoges auch durch das Angebot einer Vermittlung eine Rolle spielen. Dass von europäischer Seite so schnell das Wort Sanktionen gefallen ist, halte ich für eine äußerst unglückliche Entwicklung.

Inwiefern?

Mueller: Diese Entwicklung hat auch die belarusische Opposition mit gemischten Gefühlen beurteilt. Stattdessen hat es Stimmen gegeben, unter anderem auch aus der Umgebung von Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, die gemeint haben, es wäre zu früh, über Sanktionen zu sprechen. Ich teile diese Einschätzung. Das trägt nicht unbedingt zur Entspannung der Krise bei. Außerdem, wenn die EU beim „kleinen“ Belarus mit Sanktionen auf Einschränkungen der Demokratie und Repressionen reagiert, bei „großen“ Staaten wie China oder Russland aber nicht, setzt sie sich dem Vorwurf doppelter Standards aus.

Wie schätzen Sie die Dynamik der Proteste ein. Gab es in den Jahren zuvor eine vergleichbare, ausschließlich friedliche Opposition, die in Belarus auf die Straße gegangen ist?

Mueller: Die Demonstrationen und zuvor die Inhaftierung ernstzunehmender Gegenkandidaten, die massiven Einschränkungen im Wahlkampf für demokratische Mitbewerber, sodann die Verhaftung von anderen politischen Akteuren und die Gewaltanwendung – all das hat zu Beginn den Eindruck eines Déjà-vus hervorgerufen. Denn es zieht sich seit der Amtsübernahme Lukaschenkos in den 1990er-Jahren gewissermaßen durch die Geschichte von Belarus.

Spätestens nach der dritten, vierten, fünften Demonstration hat sich jedoch gezeigt, dass die Dynamik nicht abebbt, sondern zunimmt. Mittlerweile gibt es eine große Anzahl von Signalen dafür, dass sie auch weiter zunehmen und diesmal vielleicht anders ausgehen wird als in den vergangenen Fällen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Machtwechsel in Belarus kommt, hat mit jedem Tag zugenommen.

Erwarten Sie einen Wechsel an der Macht?

Mueller: Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Machtwechsel in Belarus kommt, hat mit jedem Tag zugenommen. Ein führender Oppositioneller hat sich dahingehend geäußert, dass es mittlerweile nur mehr zwei Alternativen gibt: Es ist entweder eine Frage von Wochen oder eine Frage von Monaten.

Es wird davon abhängen, wie sich einerseits die Streikbewegung in den kommenden Tagen entwickelt. Denn: Die Streiks in den Staatsbetrieben setzen Lukaschenko sicher noch stärker zu als die Demonstrationen auf der Straße. Und andererseits wird entscheidend sein, wie sich die Beamten und natürlich auch die Staatsmedien verhalten werden. Je mehr Menschen sich mit der Opposition solidarisieren, desto schwieriger wird es für Lukaschenko werden, an der Spitze des Staates zu bleiben.

 

Auf einen Blick

Wolfgang Mueller ist seit 2016 korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse im Inland der ÖAW und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion, zum Kalten Krieg sowie zur Wahrnehmungsgeschichte und zur Geschichte des Politischen Denkens.