09.11.2021 | Klimawandel

Verschwindende Gletscher erfordern neue Messmethoden

Im österreichischen Teil des Silvrettagebirges verschwinden aufgrund der globalen Erwärmung die Gletscher. Ein Team von Forscher/innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften setzt nun neue Vermessungsmethoden ein, um die Eisreste überhaupt noch erfassen zu können. Das kann in Zukunft helfen, Menschen und Infrastruktur in den Tälern zu schützen, wie die Wissenschaftler/innen im Fachjournal The Cryosphere schreiben.

Der Gletscher V am Schnapfenkuchl in den österreichischen Alpen im Vergleich 1954 und 2020. © data.gv.at/Montage

Wie die meisten der rund 1.000 Gletscher in den österreichischen Alpen schwinden auch die Eiskappen im Silvrettagebirge, das sich über die Grenzen von Tirol, Vorarlberg und der Schweiz erstreckt, seit Jahrzehnten. Drei Gletscher sind auf der österreichischen Seite bereits komplett abgeschmolzen. Einer der 30 größten Gletscher Österreichs, der Jamtalferner im Tiroler Teil der Silvretta, wird in den kommenden 15 Jahren ebenfalls verschwinden. 

“Die Frage, wie lange ein Gletscher noch ein Gletscher ist, wird in der Forschung noch diskutiert. Ich halte das für wenig sinnvoll, weil wir auch die Gletscherreste nicht aus den Augen verlieren sollten. Diese sind oft von Geröll bedeckt und werden so nach und nach unsichtbar, einem Laien würden sie vielfach gar nicht mehr auffallen”, sagt Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck. Manche Gletscher legen auch den darunterliegenden Permafrost frei, während  andere relativ rasch völlig abschmelzen. Bislang konnte man diese Szenarien messtechnisch kaum unterscheiden, obwohl sie unterschiedliche Folgen haben.

Muren und Fluten

Auch unsichtbares Eis, egal ob Permafrost oder verschüttete Gletscherreste, kann eine wichtige Rolle für die Entwicklung des umliegenden Lebensraums spielen. Der überbleibende Permafrost destabilisiert zum Beispiel das Gelände und verlangsamt das Aufkommen von Vegetation. “Das Abgleiten des Schuttes auf Eisresten und ausbrechende Wasseransammlungen können zu Muren und Steinschlag führen, der Straßen, Schutzhütten, Wanderwege und andere Infrastruktur beschädigt. Die Probleme reichen also bis ins Tal”, sagt ÖAW-Gletscherforscherin Fischer.

Zwischen 2006 und 2018 sind drei Silvrettagletscher restlos abgeschmolzen, zehn weitere sind völlig unter Schutt begraben. Nur 33 der verbleibenden 43 Gletscher der österreichischen Silvretta sind noch durch sichtbares Oberflächeneis erkennbar. Die Zahl der Gletscher, die zunehmend unsichtbar werden, steigt zudem weiter. “In der Silvretta geht das Abschmelzen der Gletscher rascher vonstatten als etwa in den höher gelegenen Gebieten des Großglockner oder der Westalpen”, sagt Fischer. Wenn ein Gletscher oberflächlich verschwindet, wird es zunehmend schwieriger, die weitere Entwicklung zu beobachten. 

Laser misst millimetergenau

“Es gibt mehrere Szenarien, wie sich ein Gletscher entwickeln kann, wenn er einmal unsichtbar ist. Das hängt von vielen Faktoren ab, etwa wie stark die Schuttbedeckung ist”, sagt Fischer. Um die Situation im Auge behalten zu können, setzen die Forscher/innen auf eine neue Methode, die das Erfassen von schuttbedecktem Eis möglich macht. Mithilfe von laserbestückten Flugzeugen wird das Gelände millimetergenau vermessen. In den Karten der Höhendifferenzen wird die Bewegung und die Schmelze der begrabenen Eisflächen sichtbar.

“Wir rechnen damit, dass Ende des Jahrhunderts nur mehr etwa zehn Prozent der Fläche der Alpengletscher übrig sein werden, in den Ostalpen noch etwas weniger. Diese vom anthropogenen Klimawandel getriebene Entwicklung lässt sich nicht mehr aufhalten, wir müssen also versuchen, die Situation genau zu beobachten, damit wir Probleme frühzeitig erkennen können. Das ließe sich am einfachsten bewerkstelligen, wenn wir alle drei bis fünf Jahre eine Laservermessung der Oberfläche durchführen könnten. In höher liegenden Regionen wie dem Himalaya, wo einerseits mehr Zeit bleibt, andererseits aber die Abhängigkeit der Menschen vom Schmelzwasser höher ist, können die Erkenntnisse, die wir hier gewinnen, in Zukunft hilfreich sein, um sowohl das Gefahrenpotential als auch die Wasserspende besser abzuschätzen”, sagt Fischer.

 

Publikation:

"High-resolution inventory to capture glacier disintegration in the Austrian Silvretta", Andrea Fischer, Gabriele Schwaizer, Bernd Seiser, Kay Helfricht, Martin Stocker-Waldhuber, The Cryosphere, 2021
DOI: https://doi.org/10.5194/tc-15-4637-2021

Videos:

Videoaufnahmen zeigen die Veränderungen des Gletschereises in der Silvretta im Zeitraffer.

Schnapfenkuchl and Larain Gletscher, 1954-2020
https://doi.org/10.5446/53743

Schnapfenkuchl H Gletscher, 1954-2020
https://doi.org/10.5446/53742

Bieltalferner, 1950-2020
https://doi.org/10.5446/43410

Verhupf Gletscher, 1950-2020
https://doi.org/10.5446/53943

Litzner Gletscher, 1950-2020
https://doi.org/10.5446/53923

Fluchthornferner, 1954-2020
https://doi.org/10.5446/53882

Rückfragehinweis:

Sven Hartwig
Leiter Öffentlichkeit & Kommunikation
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien
T +43 1 51581-1331
sven.hartwig(at)oeaw.ac.at

Wissenschaftlicher Kontakt:

Andrea Fischer
Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Technikerstraße 21a, 6020 Innsbruck
T +43 512 507-494 51
andrea.fischer(at)oeaw.ac.at