30.03.2016

VERGANGENE WELT

Die untergegangene Kultur der Lykier beschäftigt die österreichische Archäologie seit über 130 Jahren. Der Klassische Archäologe Oliver Hülden erzählt, warum sie bis heute fasziniert.

Limyra, Säulenstraße unter Wasser – Ali Ethem Keskin © ÖAW/ÖAI
Limyra, Säulenstraße unter Wasser – Ali Ethem Keskin © ÖAW/ÖAI

Lykien ist eine längst vergangene Welt. Nur noch Ruinen zeugen von dieser alten Kultur der Menschheitsgeschichte. Vergangen vielleicht, nicht aber vergessen. Bereits in der „Ilias“ werden die Lykier mehrfach erwähnt. Heute beschäftigt das Volk, das seit etwa 700 v. Chr. archäologisch greifbar ist und ein Gebiet an der Südwestküste der Türkei besiedelte, die Altertumswissenschaftler/inn/en.

In Limyra, einer einstmals bedeutenden antiken lykischen Stadt an der Mittelmeerküste, führt das Österreichische Archäologische Institut (ÖAI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) seit 2002 Grabungen durch. Der Ort zeichnet sich unter anderem durch seine gut erhaltenen spektakulären Grabbauten aus, die zu den schönsten Zeugnissen der Architektur dieser Kultur gehören. Oliver Hülden, der neue Leiter der Lykien-Forschung am ÖAI, erzählt im Gespräch, was es mit den Lykiern und ihren Gräbern auf sich hat – und wie diese Kultur wieder in der Geschichte verschwand.

Was macht die Erforschung der Lykien-Kultur so faszinierend?

Vergangenen Kulturen nachzuspüren, übt auf viele Menschen eine große Faszination aus, weil es die grundsätzliche Frage nach unserer Herkunft berührt. Nun geht es im Fall von Lykien nicht um das österreichische, ja nicht einmal um das mitteleuropäische Erbe. Wir haben es jedoch mit einer einzigartigen antiken Kultur zu tun, die sich selbst für den Laien insbesondere anhand der Gräber von anderen Kulturen deutlich abhebt und einen kleinen Teil der heutigen Türkei nachhaltig geprägt hat. Die antiken Ruinen sind in eine einmalige, mitunter spektakuläre Landschaft eingebettet, was ebenfalls zur Faszination beiträgt. Welche Aufmerksamkeit der lykischen Kultur international zukommt, lässt sich vielleicht daran ermessen, dass Xanthos, eine der wichtigsten lykischen Siedlungen, schon 1988 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen worden ist.

Was wissen wir über die Lykier?

Obwohl ein großer Mangel an schriftlichen Quellen über Lykien und seine Bewohner herrscht, wissen wir aufgrund der reichen und vor allem gut erhaltenen materiellen Hinterlassenschaften relativ viel über diese antike Region und ihre Entwicklung im Verlauf der Antike. Besonders das Siedlungswesen auch abseits der Städte darf als vergleichsweise gut erforscht gelten. Vielleicht kann man hier hervorheben, dass die Lykier es offensichtlich verstanden haben, sich nicht nur an ihren Naturraum anzupassen, sondern diesen auch optimal zu nutzen und daraus Wohlstand zu beziehen. Zentrale Bereiche der lykischen Halbinsel sind verhältnismäßig wasserarm, und man war in der Antike größtenteils auf das Sammeln von Regenwasser in Zisternen angewiesen. Dennoch war das Gebiet dicht besiedelt und teilweise bis in den letzten Winkel hinein kultiviert.

Warum ist die Kultur der Lykier dennoch untergegangen?

Von einem regelrechten Untergang kann man eigentlich nicht sprechen. Zunächst einmal war die lykische Kultur schon zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sie am deutlichsten fassen können, also in archaischer und klassischer Zeit, vielen äußeren, vor allem griechischen, anatolischen und orientalischen Einflüssen ausgesetzt und veränderte sich ständig.

Durch die Integration in das Alexanderreich kam ein weiterer Schub der Hellenisierung, und schließlich gingen Lykien und seine Bewohner im Imperium Romanum sowie später im christlich geprägten byzantinischen Reich auf. Eine schwerwiegende Veränderung setzte erst ein, als die Seldschuken ab dem 11. Jahrhundert in das Gebiet vordrangen und es zu einem Abreißen der städtischen Kultur kam. Diese Vorgänge sind allerdings immerhin dafür verantwortlich, dass wir dort so gute Erhaltungsbedingungen antreffen und wir die lykische Kultur heute noch gut fassen können.

Bemerkenswert an der lykischen Kultur ist der Hang zur Errichtung repräsentativer Grabstätten. Was sagt das über sie aus?

Das ist eine schwierige Frage, weil wir zwar die enorm große Zahl an sichtbaren Gräbern haben, uns aber die Texte weitgehend fehlen, die uns über Bestattungssitten, Rituale und Jenseitsvorstellungen genaue Auskunft geben könnten. Dem steht gegenüber, dass wir die lykische Grabarchitektur ziemlich gut in ihrer Entwicklung und ihren Verzweigungen fassen können. Grundsätzlich richtig ist es sicherlich, dass besonders aufwendige, aber auch besonders hervorgehobene Gräber den Eliten, also fast immer den herrschenden Familien, zuzurechnen sind.

Wegen der Allgegenwärtigkeit lykischer Gräber in der Landschaft wird oftmals angenommen, dass sich das Verhältnis der Lykier zu ihren Verstorbenen wesentlich von demjenigen in vielen anderen antiken Regionen unterschieden hat. Das glaube ich tatsächlich nicht, sondern die zumeist oberirdischen Grabstätten stechen nur besonders stark ins Auge und sind eben schon in den Berichten der frühen europäischen Wissenschaftsreisenden als markantes Kulturmerkmal in den Vordergrund gerückt worden. Auch heute fühlen sich moderne Touristen von diesen eindrucksvollen Grabstätten ja verstärkt angezogen.

Einige historische Anlagen sind sogar Teil eines Antikentourismus. Verträgt sich das mit der Forschung vor Ort?

Das verträgt sich grundsätzlich sehr gut miteinander, da mit dem Interesse der in- wie ausländischen Touristen an den Altertümern auch das Interesse an unseren Forschungen und vor allem die Akzeptanz der antiken Hinterlassenschaften steigt. Insofern haben sich die Aufgabenbereiche einer Grabungsleiterin bzw. eines Grabungsleiters in den letzten Jahren etwas gewandelt, und in vielen Fällen ist an die Seite der traditionellen Aufgaben ein aktives Site-Management hinzugetreten.

Ein Site-Management für Grabungsstätten?

Ja, das ist richtig und wichtig. Allerdings ist darauf zu achten, dass die Grenzen zwischen einer für die Öffentlichkeit aufbereiteten Ruinenstätte und einem Erlebnispark nicht überschritten werden. Außerdem sollten sich die Ausgrabungstätigkeiten nur bedingt an den Forderungen nach einer möglichst schnell zugänglichen Ruinenstätte orientieren, wobei man hier sicherlich auch Kompromisse eingehen muss.

Wir führen gerne in anderen Zusammenhängen den Begriff der Nachhaltigkeit im Mund. Das gilt auch für die Grabungsarchäologie, die an kommende Forschergenerationen und ebenso an zukünftige Besucherinnen und Besucher denken muss und diesen keine archäologischen „Wüsten“ hinterlassen darf.

Österreich kann seit den Expeditionen Otto Benndorfs in den Jahren 1881 bis 1884 auf eine lange Tradition in der Lykien-Forschung zurückblicken. Wie ist die Lage heute?

Die weit zurückreichenden österreichischen Forschungen in Lykien mit ihrer Fülle an bis heute wegweisenden Ergebnissen können gar nicht stark genug betont werden. Darin sehe ich auch eine Verpflichtung für meine eigenen Forschungen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich mich in diese Traditionslinie einreihen darf. Wenn ich mir die Berichte der frühen Lykien-Forscher anschaue, bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie viele wichtige und bis heute gültige Aussagen etwa Otto Benndorf mitunter fast en passant zu wichtigen Forschungsfragen getroffen hat.

Heute haben wir es zwar einerseits leichter bei unseren Forschungen, wenn man beispielsweise an die im Gegensatz zu früher zumeist bessere Zugänglichkeit selbst abgelegener Orte denkt. Andererseits haben wir es schwerer, weil viele der noch offenen Forschungsfragen nur mit hohem Aufwand zu beantworten sind – und das zumeist auch nicht endgültig. In vielen Bereichen fehlen uns überdies nach wie vor Grundlagenforschungen, und vor allem muss es nun auch darum gehen, Lykien mit anderen Regionen Kleinasiens und der Mittelmeerwelt unter bestimmten Fragestellungen zu verknüpfen.

Und was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich möchte einerseits die Grundlagenforschung in Limyra selbst weiter vorantreiben, was beispielsweise die Keramikbearbeitung und -analyse betrifft, die ja einen der wichtigsten Bausteine für unsere Datierungen darstellt. Andererseits gilt es, die in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten in Zentral- und Westlykien, aber auch in der nördlich angrenzenden Milyas und Kibyratis erzielten Forschungsergebnisse, etwa zur Besiedlung des ländlichen Raumes, stärker mit den Forschungen in Limyra bzw. in Ostlykien zu verbinden. Einen Beitrag dazu soll ein in seiner Planung schon recht weit fortgeschrittenes Survey-Projekt leisten, das im westlichen Teil des Territoriums von Limyra auf dem Bonda Tepe durchgeführt werden soll.

Darüber hinaus sollen die zukünftigen Aktivitäten nicht auf Lykien beschränkt bleiben, sondern ich möchte bestimmten Fragestellungen auch in einem überregionalen und sogar außerkleinasiatischen Kontext nachgehen. So sind beispielsweise zu vielen Regionen der antiken Mittelmeerwelt in den letzten Jahrzehnten Survey-Ergebnisse, etwa zu den wirtschaftlichen Verhältnissen, erzielt worden, die sich wiederum zueinander ins Verhältnis setzen lassen. Mein Ziel ist also nicht nur eine Stärkung der Feldforschungen in Lykien selbst, sondern auch eine Stärkung der „Schreibtischforschung“ zu Lykien, die zudem einen überregionalen Blickwinkel einnehmen soll.

 

 

 

Oliver Hülden ist im Fach Klassische

Archäologie an der Universität Tübingen promoviert worden und hat sich 2016 an der

Ludwig-Maximilians-Universität München habilitiert. Er war Stipendiat des

Research Center for Anatolian Civilizations der Koç University Istanbul, des Deutschen

Archäologischen Instituts und der Gerda-Henkel-Stiftung. Seit März 2016

ist er Senior Researcher am ÖAI der ÖAW. Dort leitet er die Lykien-Forschung.

Österreichisches

Archäologisches Institut der ÖAW