09.10.2020 | Nachruf

Trauer um Ruth Klüger

Die ÖAW nimmt Abschied von der österreichisch-amerikanischen Autorin und Wissenschaftlerin Ruth Klüger, die im Alter von 88 Jahren verstorben ist. Einen Einblick in ihre bewegende Lebensgeschichte gab sie zuletzt im Film „The Class of `38. Exile and Excellence”, in dem die ÖAW sechzehn von den Nazis verfolgte und vertriebene Forscher/innen zu Wort kommen lässt.

Ruth Klüger erzählte im ÖAW-Film „The Class of '38“ von ihrer Verfolgung durch die Nationalsozialisten.
Ruth Klüger erzählte im ÖAW-Film „The Class of '38“ von ihrer Verfolgung durch die Nationalsozialisten. © ÖAW

Ihr differenzierter Blick auf komplexe Themen und ihre aufrichtige Stimme als Zeitzeugin werden fehlen: Die vielfach ausgezeichnete Autorin und Literaturwissenschafterin Ruth Klüger ist im Alter von 88 Jahren in Kalifornien gestorben. Die in Wien geborene Germanistin und Holocaust-Überlebende hat stets klare Wort gegen Ausgrenzung und nationalsozialistisches Gedankengut gefunden und mit ihrer reflektierten und schonungslos ehrlichen Prosa und Lyrik Generationen von Leser/innen geprägt.

Flucht ins Leben 

Ruth Klüger wurde am 30. Oktober 1931 als Tochter eines jüdischen Frauenarztes in Wien geboren. 1942 wurde sie gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrer Mutter von den Nationalsozialisten aus Wien verschleppt. Als Elfjährige wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, ein Jahr später kam sie nach Auschwitz-Birkenau und danach in das Arbeitslager Christianstadt. Auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen kurz vor Kriegsende gelang ihr die Flucht. 

1947 emigrierte sie in die USA. Dort begann sie in New York Bibliothekswissenschaften zu studieren, später an der University of California in Berkeley Germanistik, wo sie 1967 promovierte. Als Professorin für deutsche Literatur lehrte Klüger an den Universitäten von Cleveland, Kansas und Virginia. Mit Publikationen zu Heinrich von Kleist und Gotthold Ephraim Lessing erhielt sie international große Anerkennung. Die deutsche Zeitung „Die Welt“ nannte sie einmal „Amerikas bekannteste Germanistin“. Bis zu ihrer Emeritierung lehrte sie an der Princeton University und der University of California in Irvine. Zudem war sie Herausgeberin der Fachzeitschrift German Quarterly.

Unheilbare Wunde Wien

Ihre Geburtsstadt Wien, wo sie als sechsjähriges Mädchen ausgegrenzt und diskriminiert wurde, blieb für sie stets ein ambivalenter Ort: „Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar“, schreibt Klüger im zweiten Band ihrer Memoiren „Unterwegs verloren. Erinnerungen“ (2008). Der erste Band "Weiter leben. Eine Jugend" (1992) fehlt in kaum einem Buchregal und wurde in zehn Sprachen übersetzt.

„Ich war ein Kind, das hier mit Judenstern herumgelaufen ist, da kennt man kein Wien“, erzählt sie auch im filmischen Zeitdokument „The Class of `38. Exile and Excellence” – ein Filmprojekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), das vom jüngst verstorbenen Filmemacher Frederick Baker gestaltet wurde. Klüger ist in dem Film eine von sechzehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die über ihre Verfolgung durch die Nazis und die Vertreibung aus Österreich in persönlichen Interviews berichten. 

„Wir wollen mit dem Film ‚The Class of `38‘ die Lebensgeschichten dieser Menschen für die Zukunft bewahren“, erklärt ÖAW-Präsident Anton Zeilinger. „Ich bin Ruth Klüger zutiefst dankbar, dass sie trotz allem, was sie in Österreich erleben und erleiden musste, bereit war am Film mitzuwirken und ihre Erinnerungen mit uns und künftigen Generationen junger Menschen zu teilen.“

Mehrfache Auszeichnungen

Ruth Klüger erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Österreichische Staatspreis für Literaturkritik (1997), der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch (2001), die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen (2003), der Roswitha-Preis (2006), der Lessing-Preis (2007), der Wiener Frauenpreis in der Kategorie "Gedenkjahr 1938" (2008) und der Theodor-Kramer-Preis (2011). 2015 wurde ihr das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen.

Zuletzt erschienen „Was Frauen schreiben. Essays“ (2010) und „Zerreißproben. Kommentierte Gedichte“ (Zsolnay, 2013), „Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten“ (Mandelbaum, 2016) und „Gegenwind. Gedichte und Interpretationen“ (Zsolnay, 2018).

 

Zum Film „The Class of ‘38“