30.07.2019

STUDIE: ORF-SOMMERGESPRÄCHE – KONSTRUKTIV STATT KONFRONTATIV

Sie sind fast schon zur Institution geworden: Die ORF-Sommergespräche, in denen seit 1981 Spitzenpolitiker/innen inmitten des sogenannten „Sommerlochs“ über breitgefächerte politische Themen sprechen. Eine neue Studie der ÖAW zeigt nun, inwiefern in der Diskussion auf vorgegebene Themen eingegangen wird und welche Strategien Interviewende und Interviewte dabei anwenden.

Die ORF-Sommergespräche werden überwiegend konstruktiv geführt - dies zeigt eine aktuelle ÖAW-Studie. © Shutterstock

Als eines von wenigen Interview-Formaten außerhalb von Wahlkampfzeiten geben die ORF-Sommergespräche alljährlich einen Überblick über die Standpunkte der Vorsitzenden aller im Parlament vertretenen Parteien. Mit Reichweiten bis zu einer Million Zuseher/innen ist die Reihe eines der wichtigsten politischen Interviewformate Österreichs. „Die Sommergespräche lassen sich im Zeitvergleich wissenschaftlich gut untersuchen, weil Grundidee und Interviewsetting über all die Jahre weitgehend gleichgeblieben sind“, sagt Andreas Riedl, Kommunikationswissenschaftler am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).  

Im Rahmen einer großangelegten, von der Stadt Wien finanzierten Studie wurden von Riedl 125 Folgen der Sommergespräche zwischen 1981 und 2016 analysiert. Hierfür wurden insgesamt mehr als 19.000 Statements von Politiker/innen und Journalist/innen im Kontext des Gesprächsverlaufs untersucht, wobei als „Statement“ eine Wortmeldung einer Person gilt, bevor die jeweils andere Person spricht und damit gegebenenfalls auch das Thema gewechselt wird.

Kaum thematische Ausweichmanöver 

Eines der Ergebnisse: Über all die Jahre verlaufen die Interviews in den Sommergesprächen außerordentlich konstruktiv – wobei „konstruktiv“ bedeutet, dass in durchschnittlich knapp drei von vier Fällen auf Fragen oder Aussagen von Journalist/innen mit einer thematisch passenden Replik geantwortet und nicht zu einem anderen Thema gewechselt wurde. 

„Message Control, thematische Ausweichmanöver und aggressive Konfrontation werden in der konstruktiven Atmosphäre solcher langen Interviewformate kaum angewandt. Daran hat sich über die Jahre kaum etwas geändert“, sagt ÖAW-Forscher Riedl. Diese zeitliche Stabilität sei überaus bemerkenswert, „denn tatsächlich haben sich Massenmedien, aber auch politisches Auftreten über die Jahre stark verändert“, so Riedl. Eine mögliche Erklärung sei ihm zufolge, dass Politiker/innen in längeren Interviewformaten andere Gesprächsstrategien verfolgen als in kurzen.

Herkömmliche Medienlogik gilt nur eingeschränkt 

Zu diesem konstruktiven Verlauf tragen beide Seiten bei: Wie die Studie zeigt, sind inhaltliche Fragen sowie Nachfragen im Vergleich zu Redeunterbrechungen und eigenen (nicht als Frage formulierten) Stellungnahmen die mit Abstand am häufigsten von Journalist/innen angewandte Strategie zur Gesprächssteuerung (55 Prozent der Statements) – und auch dahingehend die effektivsten, als dass Themen dann länger (also mit mehr Folgestatements) diskutiert werden.

Auch Politiker/innen vermeiden mehrheitlich (81 Prozent) offensive, aber auch defensive Strategien, und es zeigt sich, dass auch sie mit „neutralen“ Strategien „ihre“ Themen besser aufs Tableau bringen können. Konfrontation und aggressives Themenwechseln hingegen führen weniger zum gewünschten Erfolg, nämlich selbst initiierte Themen möglichst ausführlich zu diskutieren. Unterm Strich bleiben Journalist/innen dabei die erfolgreicheren „Agenda-Setter“: Rund zwei Drittel aller erfolgreich lancierten Themen wurden von Journalist/innen gesetzt, nur ein Drittel von Politiker/innen.

Dabei scheint die herkömmliche Medienlogik für die Sommergespräche nur eingeschränkt zu gelten, denn typische mediale Effekte wie Negativismus, Konflikthaftigkeit und Darstellung von Politik als „Kampf“ mit Gewinnern und Verlierern spielen in den Sommergesprächen eine untergeordnete Rolle.

Die Studie zeigt aber auch, dass Konflikthaftigkeit und Negativität beim Initiieren eines Themas, insbesondere durch Politiker/innen, zunächst zu einem Verbleiben beim jeweiligen Thema führt – also durchaus von Vorteil für den Initiator sein kann, der ja länger bei seinem Thema bleiben will. Aber, und das zeigt Riedl auch auf: Ist das gesamte Gespräch über ein Thema von konfliktreichen oder negativen Wortmeldungen geprägt, wird in der Regel früher als sonst das Thema gewechselt. 

Mehr Persönliches und Privates 

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Während die österreichische Wahlkampfforschung zeigt, dass es bei wahlnahen TV-Interviews vorrangig um Sachaspekte der Politik, also konkrete Themenfelder und Positionen geht, entfällt ein Drittel der Gesprächsbeiträge (33 Prozent) bei den Sommergesprächen auf prozessuale Aspekte von Politik, also etwa die Tätigkeit der Parteien (vier Prozent aller Beiträge), aber auch die Persönlichkeit der Politiker/innen (neun Prozent) und deren Privatleben (sechs Prozent).

Dennoch fügen sich diese prozessualen Aspekte nahtlos in eine durchaus breite Palette von Themenbereichen aus der Sachpolitik ein, die insgesamt 39 Prozent aller Wortmeldungen ausmachen: So werden in einem Sommergespräch durchschnittlich fünf von acht für die Studie definierten Sachkomplexen – darunter beispielsweise die Wirtschafts-, die Sozial- oder die Arbeitsmarktpolitik – behandelt. Die restlichen Gesprächsbeiträge (28 Prozent) entfallen auf institutionelle Aspekte von Politik sowie andere, mitunter unpolitische Themen.

ÖAW-Forscher Riedl: „Sowohl der Sendezeitpunkt abseits von Wahlkämpfen und dem politischen Tagesgeschäft, als auch die thematische Breite und die Tatsache, dass in großem Umfang auf Fragen inhaltlich eingegangen wird, heben die Sommergespräche von anderen Interviewformaten ab und machen sie für den politisch-medialen Diskurs relevant.“

 

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Sven Hartwig
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Wissenschaftlicher Kontakt:
Andreas Riedl
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andreas.riedl(at)oeaw.ac.at
 

Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der ÖAW


DIE STUDIE

"Political TV interviews in Austria 1981–2016 – Structures and strategies through times of substantial change in media and politics", Andreas Riedl, Communications – The European Journal of Communication Research, 2019. 
DOI: https://doi.org/10.1515/commun-2018-2023