Am 4. Juli 2012 meldeten WissenschaftlerInnen der ATLAS- und CMS-Experimente am Large Hadron Collider (LHC) des CERN unabhängig voneinander die Entdeckung des lange gesuchten Higgs-Bosons, des letzten fehlenden Bausteins des Standardmodells der Teilchenphysik. Mit dieser Entdeckung begann auch ein neues Forschungsprogramm, dessen Ziel es ist, die Eigenschaften des Higgs-Bosons zu messen und mit den Vorhersagen des Standardmodells zu vergleichen. Mit dem Nachweis des Zerfalls in Bottom-Quarks wurde ein weiterer Meilenstein in diesem Programm erreicht.
Die Entdeckung des Higgs-Bosons erfolgte durch Beobachtung seiner Zerfälle in Bosonen – Vermittlern der elektromagnetischen und schwachen Wechselwirkung. Gemäß der Vorhersage des Standardmodells sollte das Higgs-Boson aber auch mit Fermionen, den fundamentalen Bausteinen der Materie, wechselwirken, und zwar mit einer Kopplungsstärke, die proportional zur Masse des Fermions ist. Die elektrisch geladenen Fermionen der dritten Generation sind die schwersten Fermionen und daher sollte das Higgs-Boson am häufigsten in diese zerfallen. Der erste eindeutige Nachweis des Zerfalls in schwere Fermionen der dritten Generation durch ein einzelnes Experiment wurde 2017 von CMS vorgestellt. In einer weiteren, neueren Publikation wurde die Beobachtung der direkten Wechselwirkung zwischen dem Higgs-Boson und dem schwersten fundamentalen Teilchen des Standardmodells, dem Top-Quark, veröffentlicht.
In einem gemeinsamen Seminar am CERN stellten heute die CMS- und ATLAS- Kollaborationen ihre unabhängig voneinander erzielten Beobachtungen des Zerfalls in Bottom-Quarks vor, des dritten und letzten der schweren Teilchen der dritten Generation. Obwohl dies die häufigste Zerfallsart des Higgs-Bosons darstellt, ist der experimentelle Nachweis besonders schwierig, da diese Ereignisse von einem überwältigend großen Untergrund anderer Standardmodellprozesse getrennt werden müssen.
„Die genaue Vermessung der Eigenschaften des Higgs-Bosons ist ein zentraler Teil des wissenschaftlichen Programms am LHC. Kleinste Abweichungen könnten eindeutige Hinweise für bisher unentdeckte Physikphänomene liefern.“ sagt Jochen Schieck, Direktor des HEPHY und Mitglied der CMS-Kollaboration. Die beobachtete Stärke der Kopplung zu diesen drei Fermionen entspricht den Vorhersagen des Standardmodells. Die derzeitige Genauigkeit der Messungen lässt allerdings noch Raum für mögliche Beiträge von „Neuer Physik“, d.h. von Prozessen, die im Standardmodell nicht vorgesehen sind. Verbesserte Messungen mit der deutlich größeren Datenmenge, die im weiteren Verlauf des LHC-Programms erwartet wird, werden uns helfen, diese Szenarien zu unterscheiden.
Am Institut für Hochenergiephysik der ÖAW stellt dieses Programm einen wichtigen Forschungsschwerpunkt dar. „Die Entwicklung von Präzisionsmessungen der Eigenschaften des Higgs-Bosons ist eine ideale Ergänzung der direkten Suche nach neuen Teilchen, die an unserem Institut mit Daten des CMS-Experiments durchgeführt werden“ sagt Wolfgang Adam, Projektleiter am HEPHY. Mitarbeiter des Wiener Instituts haben wesentlich zur letztjährigen Beobachtung der Zerfälle des Higgs-Bosons in Tau-Leptonen beigetragen und arbeiten an einer Verbesserung der Nachweismethoden. Derselbe Ansatz wird auch verwendet, um nach möglichen weiteren Higgs-Bosonen zu suchen, wie sie von verschiedenen theoretischen Modellen vorhergesagt werden. Das Ziel ist in beiden Fällen, Anzeichen für „Neue Physik“ zu finden.