30.10.2020 | Gehirnorganoide

Mit neuer Methode der Mikrozephalie auf der Spur

Molekularbiolog/innen der ÖAW können mithilfe einer neuen Technologie bei Organoiden hunderte Gene auf einmal screenen und dadurch Erkrankungen des Gehirns aufspüren. So fanden sie heraus, dass Mikrozephalie durch einen bestimmten defekten Signalweg in Zellen ausgelöst wird, wie das Team nun in Science berichtet.

Eine neue Methode ermöglicht es Forscher/innen der ÖAW Organoide im Labor systematisch nach Genen zu durchsuchen, die für Erkrankungen des Gehirns verantwortlich sind. © ÖAW/Klaus Pichler

Die menschliche Gehirnentwicklung ist einer der komplexesten Prozesse der Biologie: Am Anfang stehen nur wenige Zellen, die im Zuge der Entwicklung eine unglaubliche Vielzahl an Nachkommen hervorbringen - im erwachsenen Gehirn sind es rund 87 Milliarden Nervenzellen, die uns denken und fühlen lassen und uns zu dem machen, was wir sind. Fehler während dieser Entwicklung können im Gehirn besonders schwerwiegende Folgen haben. Gehirnerkrankungen wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie sind meist genetisch bedingt, doch bislang hatte die Wissenschaft keine Methodik, um die zugrundeliegenden Mutationen systematisch zu untersuchen.

Hunderte Gene unter der Lupe

Ein erster wichtiger Meilenstein war 2013 die Entwicklung der sogenannten Hirnorganoide im Labor von Jürgen Knoblich am IMBA - Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dabei handelt es sich um Zellkulturen, die ausgehend von Stammzellen individueller Patient/innen den Aufbau eines menschlichen Gehirns sowie die Krankheitsentstehung erstaunlich genau widerspiegeln. Seitdem kommen die Organmodelle aus (iPS)Stammzellen weltweit zum Einsatz, um neurologische Krankheiten im menschlichen Zellverband zu studieren.

Bislang gab es jedoch keine Möglichkeit, Gehirnorganoide systematisch nach Genen zu durchsuchen, die für Erkrankungen des Gehirns verantwortlich sind. Doch nun berichten die ÖAW-Forscher/innen um Knoblich im Fachmagazin Science über eine neue Technologie mit deren Hilfe Hunderte von Genen unter die Lupe genommen und parallel auf ihre Mitwirkung bei Erkrankungen untersucht werden können. 

Ursache der Mikrozephalie aufgespürt

Die neue Methode namens CRISPR-LICHT (Lineage Tracing at Cellular resolution in Heterogenous Tissue) erlaubt es den Forschenden erstmals, Hunderte von Mutationen in Gehirnorganoiden gleichzeitig zu erzeugen und parallel ihre Wirkung auf die Entwicklung bestimmter Zellpopulationen im Gehirn zu untersuchen.

„Unser Ansatz kombiniert die Genschere CRISPR-Cas9 mit einer doppelten Barcoding-Methode, bei der wir jede Zelle im Organoid und die Zellen, von denen sie abstammt mit einer einzigartigen genetischen Adresse versehen. So erschließt sich für uns eine Art „Zell-Stammbaum“ und wir können feststellen, welchen Ursprung die Zellen in einem Organoid haben. Durch die CRISPR-Cas9-Methode erzeugen wir nun Mutationen in diesen Organoiden und untersuchen, wie sich dieser Stammbaum dadurch verändert,“ erklärt Co-Erstautor Dominik Lindenhofer, der Doktorand am IMBA der ÖAW ist, die neue Methode. 

Das Team untersuchte damit insbesondere die Mikrozephalie, eine genetische Störung, bei der Patient/innenen schwere Entwicklungsstörungen erleiden, weil das Gehirn nicht zur richtigen Größe heranwächst. Mithilfe der neuen Screening-Methode konnten das Team feststellen, dass ein bestimmter Signalweg in den Proteinfabriken der Zelle, dem sogenannten Endoplasmatischen Retikulum, für das gesunde Wachstum im Gehirn ausschlaggebend ist. Kommt es hier zu einem Defekt, bilden bestimmte Nervenzellen weniger Zell-Nachkommen und das Gehirn bleibt zu klein.

„Dank unserer Organoid-Screens ist es uns möglich, das Gehirn – schneller als je zuvor – nach Gendefekten zu durchleuchten. Das ist, als ob wir bisher versucht hätten, eine dunkle Höhle mit einzelnen Zündhölzern auszuleuchten und nun auf einmal einen Scheinwerfer haben,“ erläutert Christopher Esk, Co-Erstautor und Postdoktorand am IMBA der ÖAW.

Von Fliegen inspiriert

Genetische Screens an der Fruchtfliege sind in der modernen Biologie ein bewährtes Werkzeug für genomweite Analysen und haben in Wien Tradition. Die vom IMBA der ÖAW mitentwickelte „RNAi Library“ am Vienna BioCenter ist die größte Fliegensammlung weltweit zur Untersuchung von Genfunktionen. Auch Jürgen Knoblich, Letztautor der aktuellen Studie hat seine Wurzeln in der Fliegengenetik und erlangte dank der Fruchtfliege wichtige Erkenntnisse über die Rolle von Stammzellen für die Gehirnentwicklung.  

„Dass wir genetische Screens nun auch direkt an menschlichem Gewebe durchführen können, ist ein enormer Fortschritt, um „typisch menschliche“ Erberkrankungen des Gehirns zu untersuchen. Als nächstes wollen wir mit unserer Methode jene Gene unter die Lupe nehmen, die mit Störungen des Autismus-Spektrums in Verbindung stehen könnten,“ blickt Jürgen Knoblich in die Zukunft.

 

AUF EINEN BLICK

Publikation:

“A human tissue screen identifies a regulator of ER secretion as a brain size determinant”, Christopher Esk, Dominik Lindenhofer et al. Science, 2020.

DOI: 10.1126/science.abb5390