20.12.2018

Mehr als Stille Nacht

Das berühmte Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ feiert heuer sein 200-jähriges Jubiläum. Details zur Entstehung und Rezeptionsgeschichte sind im Oesterreichischen Musiklexikon der ÖAW online nachzulesen. Doch das Lied ist nicht das einzige Musikwerk, über das man dort mehr erfahren kann, erzählt ÖAW-Musikwissenschaftler Christian Fastl im Interview.

Handschriftliche Fassung von "Stille Nacht" aus der Feder von Franz Xaver Gruber, der die Melodie komponierte, aus dem Jahr 1860. © Salzburg Museum

In der Weihnachtszeit hat der Eintrag zu „Stille Nacht“ natürlich Hochkonjunktur. Doch das berühmte Weihnachtslied ist nur einer von tausenden Artikeln im digitalen Nachschlagewerk „Oesterreichisches Musiklexikon online“. Jedes Jahr kommen rund 100 weitere hinzu, sodass es mittlerweile rund 9.000 Einträge umfasst. Von Anfang an als Work in Progress konzipiert, ging es 2002 erstmals online. Parallel dazu erschien auch ein fünfbändiges Lexikon in Buchform. Der Musikhistoriker Christian K. Fastl ist Teil der Redaktion am Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Im Interview erzählt er, wie man dieses multimediale Lexikon zu Musik und Musikleben in Österreich up-to-date hält.

Einer der rund 9.000 Beiträge des Österreichischen Musiklexikons widmet sich dem Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Wie gut erforscht ist das 200 Jahre alte Weihnachtslied?

Christian K. Fastl: Entstehung und Rezeptionsgeschichte des Liedes gelten als gut beforscht. Es ist bekannt, dass verschiedene Melodie- und Textvarianten des Liedes existieren. So sind auch im katholischen Gesangbuch, dem Gotteslob, zwei Textversionen abgedruckt. Im Laufe der 200-jährigen Geschichte des Liedes tauchten immer wieder lokale und regionale Varianten auf. Sie wurden nach dem Hörensagen niedergeschrieben oder von örtlichen Lehrern und Geistlichen gedichtet. In Salzburg gibt es eine eigene „Stille Nacht“-Gesellschaft, die all diese Facetten erforscht. Der Beitrag, der im Oesterreichischen Musiklexikon zum Lied nachzulesen ist, wurde vom Salzburger Musikwissenschaftler Thomas Hochradner verfasst, einem ausgewiesenen Experten auf diesem Gebiet.

Im Laufe der 200-jährigen Geschichte von „Stille Nacht“ tauchten immer wieder lokale und regionale Varianten auf. Sie wurden nach dem Hörensagen niedergeschrieben oder von örtlichen Lehrern und Geistlichen gedichtet.

Kann es in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit „Stille Nacht“ noch Überraschungen geben?

Fastl: In der Forschung gibt es immer Überraschungen. Ich bin kein „Stille Nacht“-Spezialist, aber vor kurzem habe ich in einer Publikation der „Volkskultur Niederösterreich“ einen Artikel gelesen, wo von einer Neutextierung des Liedes aus dem Jahr 1852 aus Waidhofen an der Ybbs berichtet wurde. Das ist wiederum ein weiteres Mosaiksteinchen, das der Kollege Peter Gretzel aus dem Niederösterreichischen Volksliedarchiv zur Geschichte von „Stille Nacht“ beigetragen hat.

Seit dem Erscheinen des Oesterreichischen Musiklexikons – kurz: oeml – in Buchform ist das Online-Nachschlagewerk weitergewachsen. Wie unterscheidet sich die Webversion von der Printversion?

Fastl: Online haben wir natürlich ganz andere Möglichkeiten als in Print. Der „Stille Nacht“-Beitrag im Web wurde zum Beispiel durch Abbildungen von Notenhandschriften erweitert. In der digitalen Version sind auch zahlreiche Porträts oder Hörbeispiele abrufbar, darunter Tonaufnahmen, die auf YouTube nicht zu finden sind. Dieser multimediale Ausbau wird durch Kooperationen ermöglicht, etwa mit dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek oder mit den Tiroler Landesmuseen. Online können wir zudem aktuelle Forschungsergebnisse und Publikationen in bestehende Artikel einarbeiten. Im Bereich der biografischen Forschung ist heute viel mehr möglich als noch vor zehn Jahren. Wir arbeiten verstärkt mit der Volltextsuche in historischen Zeitungen, wie es die Österreichische Nationalbibliothek in ihrem Zeitungsportal ANNO anbietet oder greifen online auf Kirchenmatriken zurück, die für den Großteil Österreichs bis 1938 digitalisiert sind.

Welchen Zeitraum umfasst das Lexikon?

Fastl: Von der Steinzeit bis in die Gegenwart: Es gibt bei uns Artikel zur Musik während der Römerzeit oder zu Knochenflöten aus der Jungsteinzeit. Wir sind zeitlich nicht gebunden. Wir versammeln Beiträge von zeitgenössischen Komponisten genauso wie zu Castingshows wie „Starmania“ und „Helden von morgen“.

Das Oesterreichische Musiklexikon reicht von der Steinzeit bis in die Gegenwart. Wir versammeln Beiträge von zeitgenössischen Komponisten genauso wie zu Castingshows wie „Starmania“.

Wie weit ist der Österreich-Begriff gefasst?

Fastl: Wir verstehen den Begriff aktuell und historisch. Wenn wir über die österreichische Musikgeschichte sprechen, haben wir die zentraleuropäische Dimension im Blick. Für das österreichische Musikleben war natürlich die Habsburgermonarchie zentral: Bei uns findet man Artikel über die Niederlande, Beiträge zu Triest und Dalmatien bis hin zu Texten aus der Bukowina. Für die Erstellung der jeweiligen Länderbeiträge arbeiteten unsere Autor/innen auch meist mit Musikforscher/innen vor Ort zusammen. Und: Auslandsösterreicher/innen oder Exilanten/innen sind bei uns genauso dabei.

Wie entscheiden Sie, welche Beiträge aufgenommen werden?

Fastl: Ursprünglich war das relativ klar. Als Grundlage für die Lemmataliste diente das Register der dreibändigen Neuauflage der Musikgeschichte Österreichs aus dem Jahr 1995. Das war der rote Faden, der die Buchversion begleitete. Seither sind wir relativ frei und können dadurch auch auf aktuelle Strömungen reagieren.

Wie unterscheidet sich das oeml von anderen enzyklopädischen Nachschlagewerken zur Musik?

Fastl: Es geht bei uns um die Breite und nicht um die Spitze. Unsere Stärke sind nicht die großen Komponisten. Natürlich widmen wir uns auch der musikwissenschaftlichen Einordnung von Beethoven, Mozart und Haydn. Aber viel umfangreicher kann man deren Wirken anderswo nachlesen. Uns interessieren viel mehr die Leute rundherum, das Netzwerk der Zeitgenossen. Da wollen wir bewusst Schwerpunkte setzen und Lücken schließen.

 

Christian K. Fastl ist Musikhistoriker. Er studierte und promovierte an der Universität Wien. Seit 2003 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen der ÖAW. Gemeinsam mit der ÖAW-Musikwissenschaftlerin Monika Kornberger und unter der Leitung von ÖAW-Mitglied Rudolf Flotzinger ist er für die Redaktion des Oesterreichischen Musiklexikons zuständig.

Oesterreichisches Musiklexikon Online

Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen der ÖAW