15.12.2021 | Gedankenexperiment

Keine Quantentheorie ohne imaginäre Zahlen

Ein internationales Forschungsteam in Barcelona, Genf und Wien beweist mit einem Gedankenexperiment, dass die reellen Zahlen nicht ausreichen, um Quantennetzwerke exakt zu beschreiben. Das berichten die Wissenschaftler/innen mit Beteiligung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in der Fachzeitschrift Nature und beenden damit eine lange Debatte in der Physik, die schon mit Schrödinger begonnen hat.

Reelle Zahlen reichen für die mathematische Beschreibung der Quantenwelt nicht aus, wie Forscher/innen der ÖAW nun herausgefunden haben. © Georgy Ermakov/Sergey Lebedyanskiy

Die reellen Zahlen kann man sich als Punkte auf einer Zahlengeraden vorstellen. Sie enthalten alle Werte, die in Kommadarstellung geschrieben werden können, egal ob 1,225 oder Pi, und sie reichen aus, um die meisten physikalischen Phänomene mathematisch zu beschreiben. In einigen Teilbereichen der Physik, etwa bei der Beschreibung von Elektromagnetismus, erlauben es die darüber hinausgehenden komplexen Zahlen allerdings, Vorgänge einfacher zu modellieren. Die komplexen Zahlen haben eine reelle und eine imaginäre Komponente und erweitern die Zahlengerade zu einer Ebene. Der imaginäre Anteil, basierend auf der Definition i² = -1, war Physiker/innen aufgrund des scheinbar fehlenden Bezugs zur physikalischen Realität aber lange suspekt.

Als Erwin Schrödinger 1926 mit seiner berühmten Gleichung eine der Grundlagen der Quantenphysik formuliert hat, ärgerte er sich in einem Brief an Hendrik Lorentz darüber, dass er dafür auf komplexe Zahlen zurückgegriffen hatte. Später reichte er eine Formulierung in reellen Zahlen nach. Seither diskutieren Wissenschaftler/innen darüber, ob komplexe Zahlen notwendig sind, um die Natur zu beschreiben. In den 1960er-Jahren konnte dann gezeigt werden, dass einfache Quantensysteme immer mit reellen Zahlen beschrieben werden können. Ein neues Gedankenexperiment, das mittlerweile im Labor bestätigt werden konnte, beweist, dass das für komplexere Quantennetzwerke nicht gilt.

Zwei Photonenquellen

In ihrer aktuellen Nature-Publikation zeigen Marc-Olivier Renou und Antonio Acin vom Institut für Photonenforschung (ICFO) in Barcelona, Nicolas Gisin von der Universität Genf und dem Schaffhausen Institute of Technology, Armin Tavakoli von der Technischen Universität (TU) Wien sowie David Trillo, Mirjam Weilenmann, Thinh Le und Miguel Navascués vom Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), dass in komplexeren Quantennetzwerken eine Beschreibung des Systems mit reellen Zahlen nicht möglich ist, nur komplexe Zahlen führen hier zum Ziel. In ihrem Gedankenexperiment senden zwei voneinander unabhängige Teilchenquellen S und R jeweils ein Paar von verschränkten Teilchen an Empfänger. 

S schickt sein Paar an Alice und Bob, R schickt sein Paar an Bob und Chris. “Wenn man die Wahrscheinlichkeiten, dass die Messungen der drei Empfänger an ihren jeweiligen Photonenpaaren in Abhängigkeit voneinander zu bestimmten Ergebnissen führen, berechnen will, funktioniert das mit reellen Zahlen nur bis zu einer bestimmten Genauigkeit. Nur mit komplexen Zahlen lässt sich dieses Quantennetzwerk exakt beschreiben”, sagt Miguel Navascués von der ÖAW, der das Forschungsteam geleitet hat. 

Praxistauglich

Das Experiment der Forscher/innen ist mittlerweile nicht mehr rein theoretischer Natur. Chinesische Forschende haben ein entsprechendes Quantennetzwerk in ihrem Labor nachgebaut und die Ergebnisse damit auch in der Praxis bestätigt. Sie haben ein entsprechendes System mit zwei Photonenquellen und Polarisationsverschränkung entwickelt, eine Umsetzung mit anderen Quantensystemen wäre aber ebenfalls möglich. “Nachdem wir unser Resultat hatten, war es eine Herausforderung zu sehen, ob sich das mit verfügbarer Technologie auch im Labor umsetzen lässt. Nach einer Diskussion mit Kolleg/innen in Shenzhen haben wir dann einen Weg gefunden und die Ergebnisse bestätigen unsere Vorhersagen”, sagt Marc-Olivier Renou vom ICFO.

Das Experiment kann auch als Verallgemeinerung von Bell-Tests gesehen werden, bei denen eine einzelne Teilchenquelle verschränkte Photonen an zwei oder mehr Empfänger schickt. “Erst bei zwei voneinander unabhängigen Quellen werden komplexe Zahlen notwendig, um das System mit einer Quantentheorie akkurat zu beschreiben. Für Standard-Bell-Tests reichen die reellen Zahlen aus”, sagt Navascues.

Dieses Ergebnis leistet einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der Grundlagen von Quantensystemen. In Zukunft könnte es auch für die Entwicklung des Quanteninternets entscheidend werden. “Noch haben wir keine praktische Anwendung, aber wir wissen jetzt, dass wir das Potenzial des Quanteninternets nicht ausschöpfen können, wenn wir uns darauf beschränken, Kommunikationsprotokolle mit reellen Quantensystemen durchzuführen”, erklärt Navascués.

 

AUF EINEN BLICK

Publikation:

„Quantum theory based on real numbers can be experimentally falsified“, Marc-Olivier Renou, David Trillo, Mirjam Weilenmann, Le Phuc Thinh, Armin Tavakoli, Nicolas Gisin, Antonio Acín, and Miguel Navascues, Nature 2021
DOI: 10.1038/s41586-021-04160-4