24.07.2019 | Spektakulärer Fund

FREIZÜGIGES GEDICHT AUS DEM MITTELALTER

Forscher/innen aus Österreich und Deutschland entdecken ein Textbruchstück vom Ende des 13. Jahrhunderts im Stift Melk, das den bisherigen Kenntnisstand zum Umgang mit Sexualität im Mittelalter revidieren könnte.

Das Mittelalter ist für die Liebeslyrik des Minnesangs bekannt, wie hier in einer Darstellung aus dem Codex Manesse (ca. 1300 bis ca. 1340). Offenbar ging es in mittelalterlichen Texten manchmal aber auch freizügiger zu, wie Forscher/innen nun herausfanden. © Wikimedia Commons/Universität Heidelberg

Mittelalter-Expert/innen aus Mainz, Marburg und Siegen sowie von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) haben in der Stiftsbibliothek Melk einen spektakulären Fund gemacht. Sie sind auf einen schmalen, auf den ersten Blick unscheinbaren Streifen Pergament gestoßen, der es aber bei genauerer Untersuchung in sich hat. Erkennbar sind nur wenige Buchstaben pro Zeile, die in mühsamer Geduldsarbeit identifiziert wurden. Sie stammen aus einem Text, den man bislang nur in zwei deutlich jüngeren Abschriften kannte.

Sprechende Geschlechtsteile

Der sogenannte „Rosendorn“ berichtet davon, wie sich eine Jungfrau mit ihrer sprechenden Vulva darüber entzweit, wer von ihnen bei Männern den Vorzug genieße. Bislang hat man angenommen, dass ein solch freier Umgang mit der eigenen Sexualität im deutschsprachigen Raum erst zum Ende des Mittelalters aufgekommen ist, also etwa in der städtischen Kultur des 15. Jahrhunderts. Der Melker Fund dagegen wurde um 1300 geschrieben und revidiert damit die bisherige Forschung. Anzunehmen ist, dass es bereits 200 Jahre zuvor Anlässe gab, bei denen derart freizügige Texte gedichtet, vorgetragen und vielleicht sogar inszeniert wurden. Offenbar wurden sie selten aufgeschrieben und haben noch seltener die Jahrhunderte bis heute überdauert.

Das Melker Fragment stammt aus einem vormals vermutlich vollständigen Blatt, das zerschnitten wurde und als Falzstreifen für den Einband eines lateinischen Werks diente. Dies war die gängige Methode, um wertvolles Pergament wieder zu verwerten. Ob es auch inhaltliche Gründe gab, dass der „Rosendorn“ zerschnitten wurde, darüber könne man heute „wirklich nur sehr mutmaßen“, sagt Christine Glaßner vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW.

„Unheimlich klug“

Glaßner ist bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu Handschriften des Mittelalters im Stift Melk in Niederösterreich auf den Fund gestossen und findet die Geschichte, die der Text erzählt, „unheimlich klug. Es wird vorgeführt, dass man die Person sozusagen nicht von ihrem Geschlecht trennen kann“, so die Expertin für mittelalterliche Handschriften.

Nathanael Busch von der Universität Siegen konnte das Fragment bei einem Workshop am Stift Melk kürzlich als Teil des „Rosendorns“ identifizieren, „eine ganz außerordentliche Leistung“, wie ÖAW-Forscherin Glaßner betont. Das Textbruchstück wird nun im Rahmen des an der Philipps-Universität ­Marburg angesiedelten „Handschriftencensus“ der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz weiter untersucht und beschrieben.

ZUM WEITERLESEN

Eintrag auf manuscripta.at

Eintrag im Handschriftencensus