28.09.2016

Digitale Spuren des Todes

Hinrichtungen waren im Wien des 18. Jahrhunderts ein Spektakel und wurden großflächig mit Flugblättern angekündigt. Die Germanistin Claudia Resch hat die digitalisierten Todesurteile erforscht. Ihre Ergebnisse präsentierte sie an der ÖAW bei der internationalen Konferenz der „Text Encoding Initiative“.

© Bayrische Staatsbibliothek/Wikimedia/Public Domain
© Bayrische Staatsbibliothek/Wikimedia/Public Domain

Aus Altem Neues erfahren: Historische Quellen wie etwa Flugschriften können unter Einsatz digitaler Tools und Methoden viele neue Geheimnisse preisgeben. Wichtige Voraussetzung dafür sind allgemein gültige und einheitliche digitale Standards – eine Aufgabe, die die „Text Encoding Initiative“ (TEI) seit 1994 wahrnimmt. Mit der standardisierten Repräsentation von Texten in digitaler Form gelang es ihr unter anderem, Richtlinien zu schaffen, die weltweit Anwendung in Bibliotheken, Museen, Verlagen und in der Wissenschaft finden.

Vom 26. bis 30. September 2016 fand die jährliche Konferenz des TEI-Konsortiums auf Einladung des Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erstmals in Wien statt. Eine der Vortragenden war die Germanistin Claudia Resch vom ACDH der ÖAW. Sie berichtete über die Möglichkeiten und Herausforderungen der digitalen Textkodierung – und gibt im Interview einen Einblick in ihr aktuelles Forschungsprojekt: die Analyse von 168 frühneuzeitlichen Flugschriften, die der Bekanntmachung von Hinrichtungen dienten.

Für welche Delikte wurde man im Wien des 18. Jahrhunderts hingerichtet?

In den Flugschriften werden ganz unterschiedliche Delikte angeführt. Zum einen Mord, Raub oder Urfehdebruch – also, wenn Menschen, die des Landes verbannt worden waren, verbotenerweise zurückgekommen sind. Auch gab es Betrug, Gotteslästerung, Inzest oder Diebstahl als Urteilsgrund.

Todesstrafe für Diebstahl? Was musste man gestohlen haben, um mit dem Tod bestraft zu werden?

Es wurden einerseits wertwolle Dinge wie Geld, Schmuck, Gold, Silber gestohlen. Auf der anderen Seite waren die Menschen zum Teil in Not und haben Bettwäsche, Leinen, Hemden, Spinnräder, Holz oder Vieh entwendet. Oft haben sich die Taten summiert, ehe dann die Todesstrafe verhängt worden ist.

Stand das immer derart detailliert auf den Flugblättern?

Jedes Flugblatt ist in der Mitte gefaltet. Auf der ersten Seite finden sich tatsächlich detaillierte Angaben über die Verurteilten: Name, Alter, Familienstand, Religionszugehörigkeit, Herkunft und Profession sowie die Informationen über die Tat, Ort und Art der Hinrichtung.

Zum Beispiel wurde Anna Maria M. am 27. Jänner 1747 als „angewohnt- und incorrigible Diebin“ vor dem Schottentor auf dem Rabenstein mit dem Schwert hingerichtet. Sie war 40 Jahre alt, hatte keinen festen Wohnsitz, war „liederlich und dienstlos“ und hatte in Wieden sowie in Döbling mehrere Diebstähle begangen. Laut Flugblatt wurde sie deshalb öffentlich mit „Ruthenstreichen“ bestraft, floh aus dem Zuchthaus und beging dann weitere Diebstähle – diese Auflistung findet sich auf den folgenden Seiten des Flugblatts. In wenigen Fällen werden Flugblätter sogar von einem Versgedicht beschlossen, das aus der Sicht der verurteilten Person verfasst worden ist, die sich darin für schuldig bekennt und mit einer letzten Warnung Abschied von der Welt nimmt.

Wurden Frauen anders hingerichtet als Männer?

Wir können natürlich nur von den Flugschriften ausgehen, die wir untersucht haben. Da wurden Frauen meist enthauptet, zwei der 46 hingerichteten Frauen, die in den Blättern dokumentiert sind, wurden gehängt. Mörderinnen wurde zusätzlich zur Enthauptung die Hand abgeschlagen.

Sie haben nun alle 168 digitalisierten Flugblätter bearbeitet. Wo liegen die Schwierigkeiten bei so einem Vorhaben?

Man muss die Texte, die von der Wienbibliothek und der Österreichischen Nationalbibliothek gescannt worden sind, zuerst in ein maschinenlesbares Format bringen – das ist schwierig. Die Originale sind in Frakturschrift gedruckt, die für die Texterkennung, die sogenannte „Optical Character Recognition“, immer noch ein Problem darstellt. Die Tools, die für die Gegenwartssprache entwickelt worden sind, lassen sich nur bedingt auf die Texte anwenden, weil diese eine große Varianz in der Schreibung aufweisen. Das Wort „Urteil“ kommt etwa als „Urtheil“, „Vrtheil“ oder „Urthl“ vor. Daher müssen die Texte bei der Verarbeitung sehr genau überprüft werden. Wir haben aber durch frühere Projekte, wie etwa das „Austrian Baroque Corpus“ viel Erfahrung im Umgang mit älterem Neuhochdeutsch und einen Basiswortschatz aus dieser Zeit angesammelt, der die Arbeit jetzt erleichtert.

Was geschieht als nächstes?

Jetzt müssen wir die digitalisierten Texte so kodieren und aufbereiten, dass sowohl Wissenschaftler/innen als auch Interessierte darauf zugreifen und gezielt nach Informationen suchen können. Wir formalisieren die Daten und reichern die Texte mit zustätzlichen Informationen an, auf die wir und andere aufbauen können.

Wer könnte die Daten außer Ihnen noch nutzen?

Für diese Textsammlung sind viele Nutzungsszenarien denkbar: Die Literaturwissenschaft interessiert sich zum Beispiel für die Gedichte, die Sprachwissenschaft möchte den Wortschatz erforschen, Sozialhistoriker/innen könnte wiederum interessieren, welche Berufe die Delinquent/innen hatten und die Informatik verwendet das historische Textmaterial, um ihre digitalen Werkzeuge für ältere Sprachstufen zu trainieren und zu verbessern. International gesehen wird die Geschichte öffentlicher Hinrichtungen gerade intensiv beforscht – es wäre schön, wenn wir für Wien vergleichbare Daten präsentieren könnten.

Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass zum Teil viel Pseudowissen über Wiener Hinrichtungen im Umlauf ist. Warum „pseudo“?

Es gibt mehrere Bücher, die sich mit diesem spannenden Thema auseinandersetzen, dabei aber nicht mit fundierten Quellen arbeiten. Dadurch haben sich populäre Irrtümer über Hinrichtungsorte und Bestattungsorte verbreitet. Wir wollen die Flugschriften daher so aufbereiten, dass man Annahmen künftig überprüfen und auf eine verlässliche, empirische Grundlage stellen kann. Der erste Schritt dazu ist die zeitgemäße Sicherung und standardisierte Kodierung der erhaltenen Textdokumente.

 

Claudia Resch hat Germanistik und Publizistik an der Universität Wien studiert, wo sie 2003 auch promovierte. Derzeit ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanities der ÖAW beschäftigt und leitet dort die Arbeitsgruppe „Network and Outreach“. Sie unterrichtet zudem an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

TEI Conference 2016
Austrian Centre for Digital Humanities der ÖAW