15.01.2019

Die andere Seite von Migration

Emigration prägt Gesellschaften nicht weniger als Immigration. Das wird besonders deutlich an den Ländern Südosteuropas, die inzwischen zu Auswanderungsländern geworden sind. Wie sich das auf die Region und die dortige Politik auswirkt, erklärt der deutsche Historiker Ulf Brunnbauer im Interview und bei einem Vortrag an der ÖAW.

Wenn heute von Migration die Rede ist, dann ist zumeist Immigration – also Einwanderung – gemeint. „Für ein vollständiges komplexes Verständnis von Migration braucht es aber einen Blick auf beide Seiten, auf Immigration und Emigration“, sagt Ulf Brunnbauer, Historiker an der Universität Regensburg. Er erforscht am Beispiel Südosteuropas, wie Auswanderung Gesellschaft und Politik seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart prägen und welche Rolle die jeweilige „Diaspora“ für die Heimatländer der Emigrant/innen spielt.

Brunnbauer ist am 16. Jänner 2019 für einen Vortrag in Wien zu Gast und zwar am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Im Interview erzählt er, warum der Begriff der Diaspora in Südosteuropa derzeit Hochkonjunktur hat und was die Politik sich von „ihren“ Emigrant/innen erhofft.

Der Begriff der Diaspora erlebt in Südosteuropa gegenwärtig Hochkonjunktur. Warum?

Ulf Brunnbauer: Der Begriff der Diaspora erfreut sich in Südosteuropa beinahe schon inflationärer Beliebtheit. Seit den frühen 1990er-Jahren hat der Begriff eine Ausweitung erfahren, die über den ursprünglich jüdischen und armenischen Kontext hinausreicht. Das kann man vor allem im ehemaligen Jugoslawien beobachten. Nicht nur Emigrantengruppen beschreiben sich als Diaspora, auch Regierungen sprechen davon, dass es eine Diaspora ihrer jeweiligen Nation gäbe.

Was wird darunter verstanden?

Brunnbauer: Diaspora bedeutet ja, dass sich die Emigranten ihrer Heimat nach wie vor verbunden fühlen, etwas Gutes für sie tun wollen und sich auch danach sehnen wieder zurückzukehren. Diese Absichten wollen die Regierungen fördern, allerdings nach ihren eigenen Vorstellungen. Das zeigt sich gut in staatlichen Einrichtungen: In Serbien und im Kosovo, wo es Ministerien für die Diaspora gibt, oder in Bulgarien und Montenegro, wo es staatliche Agenturen für die Auslandsbulgaren beziehungsweise Montenegriner gibt.

Diaspora bedeutet ja, dass sich die Emigranten ihrer Heimat nach wie vor verbunden fühlen, etwas Gutes für sie tun wollen und sich auch danach sehnen wieder zurückzukehren. Diese Absichten wollen die Regierungen fördern, allerdings nach ihren eigenen Vorstellungen.

Was erhoffen sich Regierungen von „ihren“ Diasporen?

Brunnbauer: Die Hoffnungen sind vielfältig, weitreichend und größtenteils unrealistisch. Vorneweg muss man betonen, dass die Länder Südosteuropas Auswanderungsländer sind. Für Regierungen ist das einerseits unerfreulich, weil es ja von einer Unzufriedenheit mit den Verhältnissen vor Ort zeugt. Andererseits begreifen das manche aber auch als Chance, insbesondere weil Emigranten viel Geld an ihre im Land gebliebenen Familien überweisen. Insofern versuchen Regierungen auch darauf hinzuwirken diese Heimatliebe zu fördern. Das geschieht etwa im Kosovo oder in Albanien – zwei Länder, wo es tatsächlich viel Auswanderung gibt. Darüber hinaus erhofft man sich politisches Lobbying. Für die kosovarische Außenpolitik sind zum Beispiel die vielen kosovarischen Emigrantengruppen durchaus von Bedeutung. Dass Regierungen versuchen die Menschen in der Diaspora für ihre Zwecke einzuspannen, ist allerdings nichts Neues. Das findet man im späten 19. Jahrhundert systematisch in Italien und ansatzweise dann auch in südosteuropäischen Ländern.

Welche Emigrantengruppen existierten im 19. Jahrhundert in dieser Region?

Brunnbauer: Südosteuropa ist seit jeher eine Region, die durch sehr starke Mobilität gekennzeichnet ist. Lange Zeit vor allem innerhalb der Region. Im späten 19. Jahrhundert begann eine sehr starke Überseemigration. Insbesondere in Nordamerika gab es seither große Emigrantengruppen – kroatische, serbische, makedonische, slowenische, griechische, usw. Diese Gruppen bildeten auch eine Art Netzwerk, das auch im darauffolgenden Jahrhundert mobilisiert werden konnte. In meiner Forschung versuche ich zu zeigen, welche Instrumente Staaten entwickeln, um Emigration zu kontrollieren oder auch zu unterbinden. Interessant ist hier auch zu zeigen, wie von staatlicher Seite versucht wurde Auswanderer für sich zu nutzen – insbesondere im Kontext von Nationsbildung und Nationalismus. Hier gibt es deutliche Kontinuitäten seit dem späten 19. Jahrhundert, die über die vielfältigen politischen Umbrüche hinweg relativ stabil blieben.

Moderne Staaten und ihre Bürokratien bevorzugen sesshafte Bürger, die kann man leichter besteuern und kontrollieren, die kann man in die Schule und in die Armee schicken.

Angesichts der hohen Emigrationszahlen in Südosteuropa gehen Sie davon aus, dass Emigrationspolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein „zentrales Motiv“ in der Gesellschaftspolitik der Balkanländer gewesen sei. Warum?

Brunnbauer: Die Kontrolle darüber, wer rein und wer rauskommt ist eines der fundamentalen Merkmale des modernen westfälischen Staates, wie er im 17. Jahrhundert entstanden ist. In Südosteuropa – wie überall auf der Welt – migrierte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Auch wenn die Emigrationszahlen hoch erscheinen, der große Teil der Bevölkerung blieb sesshaft. Es geht also gar nicht so sehr um die Migration per se, sondern um die gesellschaftspolitischen Bereiche, die Migration tangiert. Migration ist ein Querschnittsthema, das wichtige und sensible Punkte des modernen Staates betrifft. Moderne Staaten und ihre Bürokratien bevorzugen sesshafte Bürger, die kann man leichter besteuern und kontrollieren, die kann man in die Schule und in die Armee schicken. Deshalb eignet sich Migration als ein Prisma, um zu verstehen, wie Staaten funktionieren und welche neuen Techniken der staatlichen Kontrolle gesellschaftlicher Bewegungen und sozialer Prozesse entwickelt wurden.

Deutschland versteht sich heute als Einwanderungsland. Dabei wird völlig vergessen, dass es vor zehn Jahren zahlenmäßig noch mehr Auswanderung als Einwanderung gab und auch heute jedes Jahr Hundertausende das Land verlassen. Darüber spricht aber niemand.

Die Migrationsforschung konzentriert sich mehr auf Aspekte der Immigration und Integration während Auswanderungspolitiken weniger beachtet werden. Woran liegt das?

Brunnbauer: Migrationsforschung ist primär von dem staatlichen Wunsch geprägt Migrationsbewegung zu kontrollieren. Die meisten Länder, die sich eine systematische Migrationsforschung leisten können, verstehen sich als Immigrationsländer. Entsprechend gibt es diese Schlagseite auch in der Migrationsforschung. Für ein vollständiges komplexes Verständnis von Migration braucht es aber einen Blick auf beide Seiten, auf Immigration und Emigration, zumal es hier interessante Verbindungen gibt. Einwanderungs- und Auswanderungsländer interagieren stark, wenn es um die Kontrolle der Migrationsbewegung geht. Gegenwärtig versuchen Einwanderungsländer die Zutrittskontrolle in die Auswanderungsländer zu externalisieren. Oder: Deutschland versteht sich heute als Einwanderungsland. Dabei wird völlig vergessen, dass es vor zehn Jahren zahlenmäßig noch mehr Auswanderung als Einwanderung gab und auch heute jedes Jahr Hundertausende das Land verlassen. Darüber spricht aber niemand.

 

Ulf Brunnbauer ist  Wissenschaftlicher  Direktor  des  Leibniz-Instituts  für  Ost-  und Südosteuropaforschung  sowie  Professor  für  Geschichte  Südost-  und  Osteuropas  an  der Universität Regensburg. Er promovierte an der Universität Graz und habilitierte sich an der FU Berlin. Er ist Autor bzw. Ko-Autor mehrerer Fachbeiträge und Monographien, darunter zuletzt „Geschichte Südosteuropas“, 2018 erschienen im Reclam Verlag.

„Diaspora als Idee und Praxis: Transnationale Nationsbildungen in Südosteuropa seit dem 19. Jahrhundert“ ist der Titel des Vortrags den Ulf Brunnbauer am 16. Jänner 2019 um 17:00 Uhr am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der ÖAW (Apostelgasse 23, 1030 Wien) hält.

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Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der ÖAW